Keine Rechtfertigung einer Beihilfe bei Verstoß gegen besondere Vorschriften des Unionsrechts?

Das Verfahren nach Artikel 108 AEUV darf niemals zu einem Ergebnis führen, das zu den besonderen Vorschriften des Vertrages im Widerspruch steht.

Mit dieser Begründung erachtete die Europäische Kommission einen Ausgleich für die Erbringung gemeinwirtschaftlicher Dienstleistungen für den Betrieb einer internationalen Seeverbindungsroute als mit dem Binnenmarkt unvereinbare Beihilfe, weil die Begünstigte Adriatica (ein Unternehmen der Tirrenia-Gruppe) an einem nach Art. 101 AEUV verbotenen Preisfestsetzungskartell beteiligt war.

Das Ergebnis der Kommission wurde nunmehr mit Urteil des EuG vom 18.05.2022 (T-601/20) bestätigt. Tirrenia hatte gegen den Kommissionsbeschluss (u.a.) auf der Grundlage geklagt, dass allein die Beteiligung an einem solchen Kartell nicht die Binnenmarktvereinbarkeit ausschließen könne. Die Beihilferegelung als solche habe nicht gegen besondere Vorschriften des Vertrages verstoßen.

Daneben enthält das Urteil u.a. grundlegende Aussagen zur Unterscheidung zwischen bestehenden und neuen Beihilfen und zum Sinn und Zweck der 10-jährigen Verjährungsfrist.

Hintergrund

Das Urteil reiht sich ein in einen seit 1999 schwelenden Konflikt zwischen der Tirrenia-Gruppe und der Europäischen Kommission wegen Ausgleichszahlungen des italienischen Staates für durch die Tirrenia-Gruppe durchgeführte Seeverkehrsdienste als öffentliche Dienstleistung.

Zuletzt hatte die Kommission mit Beschluss vom 02.03.2020 einen Großteil der Maßnahmen als bestehende Beihilfen oder mit dem Binnenmarkt vereinbare Beihilfen bewertet (siehe hierzu Ein seltener Fall im Beihilfenrecht: ein Beschluss der Kommission auf Grundlage des DawI-Rahmens – BeihilfenBlog (beihilfen-blog.eu)). Lediglich Ausgleichsleistungen für die Route Brindisi–Korfu–Igoumenitsa–Patras erachtete die Kommission wegen des Verstoßes gegen Art. 101 AEUV als mit dem Binnenmarkt unvereinbare Beihilfe.

Das Urteil des EuG

Tirrenia macht zur Begründung ihrer Klage drei Klagegründe geltend: Erstens, einen Verstoß gegen die Verfahrensvorschriften in Bezug auf die Verjährungsfrist für die Rückforderung von Zinsen; Zweitens, die fehlerhafte Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen, die fehlerhafte Einstufung als neue Beihilfen, einen Verstoß gegen die Begründungspflicht und einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Drittens, einen Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäßen Verwaltung.

Fehlerhaften Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen und Verstoß gegen Begründungspflicht

Wie bereits einleitend angeführt, ist Tirrenia der Ansicht, dass die Kommission zu Unrecht angenommen habe, dass allein das Vorliegen eines wettbewerbswidrigen Verhaltens (bspw. in Form eines kartellrechtlichen Verstoßes) bereits impliziere, dass es unmöglich sei, dass die Beihilfe mit dem Binnenmarkt vereinbar sei. Die Beihilfe als solche verstoße nämlich nicht gegen andere Bestimmungen des Vertrages, der Verstoß gegen Art. 101 AEUV liege in einem gesonderten Verhalten begründet.

Das EuG stimmt Tirrenia insofern zwar noch zu, dass eine Beihilferegelung, die nicht als solche und auch nicht aufgrund ihrer Modalitäten gegen andere Bestimmungen des Vertrages verstößt, nicht aus diesem Grund als mit dem Binnenmarkt unvereinbar angesehen werden kann. Die Kommission hatte ihre Begründung aber, anders als von Tirrenia unterstellt, nicht auf die bloße Existenz eines Verstoßes gegen Art. 101 AEUV gestützt. Vielmehr führte die Kommission als Begründung an, dass das mit einem Preisfestsetzungskartell verfolgte Ziel im Widerspruch zum Ziel einer Beihilfe für gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen steht. Während die Bildung eines Preisfestsetzungskartells darauf abzielt, Preise für Verbraucher im Vergleich zum Marktpreis zu erhöhen und den Beteiligten höhere Vergütungen zu sichern, dient eine Beihilfe für Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse dazu, Preise für Verbraucher erschwinglich zu halten und Nutzern die Dienstleistung zugänglich und regelmäßig zu gewährleisten. Das EuG bestätigte die Kommission, dass sie ohne offensichtlichen Beurteilungsfehler zu dem Schluss kommen konnte, dass die Beteiligung an einem Preisfestsetzungskartell deshalb die Unvereinbarkeit der Maßnahme mit dem Binnenmarkt impliziere.

Soweit Tirrenia auch rügte, dass die Kommission hinsichtlich dieses Prüfungspunktes gegen ihre Begründungspflicht verstoßen habe, weist das EuG auch diese Rüge ab. Die Begründung der Kommission war insofern sogar besonders ausführlich und die Rüge Tirrenias zielte eher auf die rechtliche Bewertung als auf eine fehlende Begründung.

Fehlerhafte Einstufung als neue Beihilfe und Verstoß gegen die Begründungspflicht

Des Weiteren wendete Tirrenia sich gegen die Feststellung der Kommission, dass es sich bei der Beihilferegelung um eine neue Beihilfe handelte. Vielmehr habe es sich um eine bestehende Beihilfe gehandelt.

Zum einen seien die Verbindungen zwischen Italien und Griechenland bereits in – den Betrieb verschiedener Routen regelnden – Gesetzesdekreten von 1936 vorgesehen gewesen, wovon notwendigerweise auch die hier gegenständliche Verbindung umfasst gewesen sei. Diese Argumentation lehnte das EuG mit der Begründung ab, dass es die italienischen Behörden im Verwaltungsverfahren versäumt hätten, das Datum der Einführung der konkreten Strecke zu übermitteln und aus einem Schreiben der italienischen Behörden vielmehr hervorgeht, dass die konkrete Strecke erst 1972 eingeführt wurde. Im Übrigen war die Bezugnahme auf die Strecke zwischen Italien und Griechenland so allgemein und unspezifisch, dass schon nicht geprüft und gewährleistet werden könne, dass der Betrag, der die konkrete Strecke betreffenden Beihilfe nicht über das hinausging, was zur Deckung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung erforderlich war.

Zum anderen seien nach Ansicht Tirrenias später am Mechanismus zur Berechnung des Ausgleichsbetrages vorgenommene Änderungen nicht wesentlich und die Aufhebung der Gesetzesdekrete von 1936 insofern rein formal. Hierzu stellt das EuG fest, dass die Rechtsgrundlage, auf der die Gewährung der Ausgleichszahlungen zuvor beruhte, unstreitig aufgehoben wurde. Der Rechtsakt sei somit im Zeitpunkt seiner Aufhebung erloschen und somit nicht mehr Teil der Rechtsordnung der Union gewesen. Die Ausgleichsregelung ist mit der Rechtsgrundlage verbunden, die ihre Rechtmäßigkeit begründet und verschwindet mit Aufhebung der Rechtsgrundlage ebenfalls aus der Rechtsordnung. Vielmehr wurde die Ausgleichsregelung dann durch eine neue Regelung, die streitige Beihilferegelung als, als neue Beihilfe iSd. Art. 1 lit. c der VO Nr. 659/1999 ersetzt.

Schließlich waren entgegen der von Tirrenia vertretenen weiteren Argumente auch die übrigen Änderungen der Regelung wesentlicher Art, als dass sie Kernelemente wie den Ausgleichsmechanismus zur Berechnung der Höhe des Ausgleichs, den Zeitraum, in dem der Ausgleich gezahlt werden konnte und die Haushaltsmittel, die zur Finanzierung bereitgestellt werden sollten, betrafen. Aus den gleichen Gründen war die Beihilferegelung ebenso wenig als eine bestehende Beihilfe zu bewerten, weil die Änderungen von der ursprünglichen Regelung abtrennbar gewesen wären. Die Änderungen betrafen wesentliche Elemente der Regelung.

Auch hier nahm die Kommission in ihrem Beschluss eine ausführliche Begründung vor, sodass das EuG hinsichtlich der Rüge eines Verstoßes gegen die Begründungspflicht auch hier feststellte, dass Tirrenia eher den Inhalt der Begründung in Frage stellt, als das Fehlen einer Begründung behaupten zu können.

Verstoß gegen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

Schließlich rügte Tirrenia materiell noch einen Verstoß der Kommission gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, weil die Kommission zum einen eine Geldbuße wegen der Beteiligung am Kartell und zum anderen eine Rückforderung von Beihilfen wegen der Unvereinbarkeit der Regelung mit dem Binnenmarkt (infolge der Beteiligung an einem Kartell) verhängt habe. Hierdurch würde Tirrenia doppelt sanktioniert.

Hierzu stellte das EuG nur kurz dar, dass Tirrenia – anders als von ihr geltend gemacht – nicht zwei Mal bestraft wurde. Die Rückforderung einer Beihilfe wegen ihrer Unvereinbarkeit mit dem Binnenmarkt stellt keine Geldbuße dar, sondern dient der Beseitigung der Wettbewerbsverzerrung. Die Verurteilung wegen der Beteiligung an einem Kartell erfolgt hiervon unabhängig und wegen einer (gesonderten) Zuwiderhandlung.

Die Rückforderung der Beihilfe ist einzig Folge ihrer Rechtswidrigkeit und Unvereinbarkeit mit dem Binnenmarkt. Als solche kann die Rückforderung selbst keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit begründen.

Anwendung der  der 10-jährigenVerjährungsfrist nach Art. 17 Abs. 1 VO 2015/1589 auf die Rückforderung von Zinsen

Mit Beschluss vom 16.03.2004 (Entscheidung 2005/163/EG) hat die Kommission erstmals die gegenständliche Maßnahme als mit dem Binnenmarkt unvereinbare Beihilfe bewertet und die Rückforderung der Beihilfe einschließlich Zinsen angeordnet. Italien hat daraufhin die Beihilfen sowie einen Großteil der Zinsen von Tirrenia zurückgefordert. Der Beschluss wurde wegen eines Verstoßes gegen die Begründungspflicht mit Urteil des EuG vom 04.03.2009 aufgehoben.

Die Rückforderung  umfasste nach Feststellungen der Kommission nicht die aus einer verzögerten Rückzahlung durch Tirrenia entstandenen Zinsen für einen Zeitraum vom 01.01.2007 bis zum 26.03.2007. Soweit die Kommission hinsichtlich dieses Betrages jetzt mit dem hier gegenständlichen Beschluss die Rückforderung der ausstehenden Zinsen anordnet, wendet Tirrenia den Ablauf der 10-jährigen Verjährungsfrist des Art. 17 Abs. 1 der VO 2015/1589 ein. Es habe bezüglich der Zinsen keine Beanstandung der Kommission gegeben, die die Verjährung hätten unterbrechen können. Seit dem letzten die Verjährung unterbrechenden Ereignis – dem EuG-Urteil vom 04.03.2009 zum damaligen Kommissionsbeschluss – seien mehr als 10 Jahre vergangen.

Das EuG hält hierzu zunächst fest, dass das Hauptziel der Rückforderung einer rechtswidrig gewährten Beihilfe darin besteht, die durch den verschafften Wettbewerbsvorteil verursachte Wettbewerbsverzerrung zu beseitigen. Die Rückforderungspflicht ist erst erfüllt, wenn der Betrag der Beihilfe einschließlich Zinsen zurückgezahlt wurde, wie sich aus Art. 16 Abs. 1 und Abs. 2 der VO 2015/1589 ergibt. Nach Art. 16 Abs. 2 der VO 2015/1589 umfasst die aufgrund eines Rückforderungsbeschlusses zurückzufordernde Beihilfe Zinsen, die nach einem von der Kommission festgelegten angemessenen Satz berechnet werden und vom Zeitpunkt, ab dem die Beihilfe dem Empfänger zur Verfügung stand bis zu ihrer tatsächlichen Rückzahlung zu zahlen sind.

Verjährungsfristen haben demgegenüber die Funktion, Rechtssicherheit zu gewährleisten.

Durch das Urteil des EuG wurde mit dem Kommissionbeschluss zwar die Grundlage für die Rückforderung sowohl der Beihilfen als auch der Zinsen aufgehoben. Unmittelbar darauf nahm die Kommission jedoch das Verwaltungsverfahren wieder auf und stellte mit Abschluss des Verfahrens in dem hier gegenständlichen Beschluss fest, dass die gegenständliche Maßnahme eine rechtswidrige und mit dem Binnenmarkt unvereinbare Beihilfe darstellte. Eine besondere Feststellung zu den Zinsen musste die Kommission hierbei nach Ansicht des Gerichts  nicht treffen, da sich die Ausdehnung auf die Zinsen unmittelbar und zwangsläufig aus Art. 16 der VO 2015/1589 ergibt. Insofern ist es unzutreffend, dass das letzte die Verjährung unterbrechende Ereignis das Urteil vom 04.03.2009 gewesen sein soll. Denn in dem wieder aufgenommenen Verfahren ergriff die Kommission zahlreiche, die Verjährungsfrist unterbrechende Maßnahmen, wie sie in Art. 17 Abs. 2 der VO 2015/1589 aufgeführt werden. So richtete sie u.a. am 18.10.2018 (vor Ablauf der auch nach Klägerinnenvortrag nicht vor 2009 beginnenden Verjährungsfrist) ein Schreiben an Italien, in dem Italien aufgefordert wurde, den genauen bislang zurück geforderten Betrag mitzuteilen.

Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und der guten Verwaltung sowie gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes

Schließlich rügt Tirrenia einige Verstöße der Kommission auf der Grundlage der übermäßigen Länge des Verfahrens von 10 Jahren. So hätte die übermäßige Dauer ein berechtigtes Vertrauen in die Binnenmarktvereinbarkeit der Maßnahmen hervorgerufen und auch gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und der guten Verwaltung verstoßen.

Auch insofern folgt das EuG der Argumentation aber nicht.

Dier Kommission ist im Falle einer nicht angemeldeten möglichen rechtswidrigen Beihilfe (so hier der Fall) nicht an die Fristen für angemeldete Beihilfen gebunden, wie sich auch aus Erwägungsgrund 22 der VO 2015/1589 ergibt. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer ist anhand der Umstände des Einzelfalls zu bewerten.

Nicht nur benennt Tirrenia aber schon nicht konkret, aus welchen Umständen sich im Einzelfall ein Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und ordnungsgemäßen Verwaltung ergeben soll. Die Entscheidung enthält außerdem zahlreiche Erwägungsgründe zu einer Vielzahl von Maßnahmen, deren faktische und rechtliche Komplexität von den italienischen Behörden im Verfahren selbst hervorgehoben wurde. Ferner waren es vor allem die italienischen Behörden, die untätig geblieben sind und es unterlassen haben, der Kommission rechtzeitig die erforderlichen Informationen zu übermitteln.

Betreffend den Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes kommt hinzu, dass bei einer ohne vorherige Anmeldung durchgeführten Maßnahme der Empfänger zu diesem Zeitpunkt kein berechtigtes Vertrauen in ihre rechtmäßige Gewährung haben kann. Ein Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 AEUV ist für sich genommen bereits geeignet, ein berechtigtes Vertrauen des Empfängers auszuschließen. Soweit Tirrenia Rechtsprechung anführt, die sich auf Vertrauensschutz bei Durchführung eines Vorprüfungsverfahrens oder bei angemeldeten Verfahren bezieht, ist diese Rechtsprechung auf den Fall einer nicht angemeldeten gewährten Beihilfe nicht übertragbar. Die Kommission hat schließlich auch keine Vertrauensschutz begründende Zusicherung erteilt. Im Gegenteil war für Tirrenia erkennbar, dass die Kommission die Beihilfe immer noch als rechtswidrig betrachten würde, nachdem der erste Beschluss wegen eines Verstoßes gegen die Begründungspflicht aufgehoben wurde.

*Diesen Beitrag schrieb Christopher Hanke während seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt bei MWP.

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