Multinationale Konzerne und Steuern – die nächste Episode

Die beihilferechtliche Bewertung eines Körperschaftssteuersystems, „tax rulings“, die Auslegung nationalen Rechts, Sinn und Zweck des förmlichen Prüfverfahrens nach Art. 108 Abs. 2 AEUV – das Vorgehen der Europäischen Kommission gegen Steuermaßnahmen zugunsten multinationaler Konzerne lieferten der 2. Kammer des EuG gleich eine ganze Reihe von spannenden Rechtsfragen, mit denen sie sich in ihrem Urteil vom 06.04.2022 (T-508/19) auseinanderzusetzen hatte.

Das Ergebnis im Kern:

Die Nichtbesteuerung von Nutzungsentgelten („royalties“) im Einkommenssteuergesetz Gibraltars zwischen 2011 und 2013 stellt eine unter Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 AEUV gewährte mit dem Binnenmarkt unvereinbare Beihilfe dar.

Soweit die Kommission in von Gibraltar ausgestellten Steuervorbescheiden eine zusätzliche Einzelbeihilfe feststellte, wird der Beschluss der Kommission aufgehoben. Die Kommission hat insofern den Beteiligten keine hinreichende Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben und gegen Art. 108 Abs. 2 AEUV verstoßen.

Hintergrund

Seit 2013 führt die Europäische Kommission gezielt beihilferechtliche Prüfungen von durch Mitgliedstaaten gewährte Steuervorbescheide (sog. „tax rulings“) durch (siehe zur Praxis der tax rulings und ihrer Bewertung durch die Kommission Ruling (Tax) rulings… Die Kommission stellt die Beihilferechtswidrigkeit vorteilhafter Steuervorbescheide für Fiat und Starbucks fest – BeihilfenBlog).

Nach Ansicht der Kommission stellen Steuervorbescheide nach den EU-Beihilfevorschriften kein Problem dar, wenn sie lediglich bestätigen, dass steuerliche Vereinbarungen zwischen verschiedenen Unternehmen einer Unternehmensgruppe mit den einschlägigen Steuervorschriften im Einklang stehen und insofern Rechtsklarheit vermitteln. Bilden die Steuervorbescheide aber nicht die wirtschaftliche Realität ab und verschaffen so bestimmten Unternehmen einen selektiven Vorteil, können sie den Wettbewerb im Binnenmarkt verfälschen und gegen die EU-Beihilfevorschriften verstoßen.

Seit 2015 schloss die Kommission zahlreiche dieser Prüfungen mit dem Ergebnis ab, dass die Mitgliedsstaaten selektive Steuervorteile gewährt hatten, die folglich von den begünstigten Unternehmen zurückzufordern waren. Da sich die betroffenen Mitgliedsstaaten und Unternehmen gegen die entsprechenden Kommissionsbeschlüsse gerichtlich zur Wehr setzen, stehen Steuervorbescheide vermehrt auf dem gerichtlichen Prüfstand. Nachdem die Kommission bei ihrem Vorgehen gegen die Praxis der tax rulings zunächst einige Rückschlage zu verkraften hatte (siehe EuG zum Thema Tax-rulings: die Kommission liegt 1:2 im Rückstand – BeihilfenBlog), durfte sich die Kommission durch die jüngeren Entscheidungen der europäischen Gerichte in ihrem Vorgehen vermehrt bestätigt sehen (siehe Etappen-Sieg für die Kommission bei Prüfung von „tax rulings“ zugunsten von Nike und Converse: Klage gegen Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens abgewiesen – BeihilfenBlog) und EuGH: Belgische „tax rulings“ stellen eine Beihilferegelung dar – BeihilfenBlog).

Mit gemischten Gefühlen dürfte die Kommission nun die jüngste Entscheidung des EuG im Zusammenhang mit tax rulings vernehmen. Auf der einen Seite hat das EuG die Kommission darin bestätigt, dass die Körperschaftssteuerbefreiung für Nutzungsentgelte in Gibraltar in den Jahren 2011 bis 2013 bestimmten Unternehmen einen gegen EU-Beihilfevorschriften verstoßenden selektiven Vorteil gewährte. Auf der anderen Seite hob das Gericht jedoch  den Beschluss der Kommission – wenn auch aus formalen Gründen – auf, soweit die Kommission darüber hinaus einen selektiven Steuervorteil in fünf von Gibraltar ausgestellten Steuervorbescheiden sah.

Die Steuermaßnahmen Gibraltars

Gibraltar ist in Steuerangelegenheiten autonom und hat ein vom Vereinigten Königreich getrenntes Einkommenssteuerrecht.

Zum 01.01.2011 trat in Gibraltar das Einkommenssteuergesetz von 2010 (Income Tax Act 2010, im Folgenden „ITA 2010“) in Kraft. Dieses sah eine Besteuerung nach dem Territorialitätsgrundsatz vor: nur Einkommen, das in Gibraltar angefallen ist oder von dort stammt, ist steuerpflichtig. Welche Arten von Einkommen steuerpflichtig sind, ist hierbei ausführlich in den Tabellen A, B und C der Schedule 1 des ITA 2010 festgelegt. Die Besteuerung von (Passiv-)Zinsen für konzerninterne Darlehen und von Nutzungsentgelten (z.B. für die Nutzung von Rechten geistigen Eigentums) war in den Tabellen nicht vorgesehen. Im Jahr 2013 führte Gibraltar Änderungen am Einkommenssteuergesetz ein, durch die Einkünfte aus Zinsen ab dem 01.07.2013 und Nutzungsentgelte ab dem 01.01.2014 körperschaftssteuerpflichtig wurden.

Gleichzeitig erteilte Gibraltar in den Jahren 2011 und 2012 zahlreiche Steuervorbescheide an multinationale Unternehmen. Hiervon umfasst waren u.a. fünf Steuervorbescheide, die die steuerliche Behandlung bestimmter niederländischer Kommanditgesellschaften in Gibraltar betrafen. In diesen fünf Fällen waren die Gesellschafter nach den in Gibraltar und den Niederlanden geltenden Steuervorschriften in Gibraltar ansässig und hätten dort besteuert werden müssen. Die Steuervorbescheide bestätigten, dass die Unternehmen keine Steuern auf die von den Kommanditgesellschaften erzielten Zinsen und Nutzungsentgelte zu entrichten hatten. Auf Grundlage der Steuervorbescheide waren diese Einkünfte auch nach der Gesetzesänderung in 2013 noch von der Körperschaftssteuer befreit. Einer der fünf Steuervorbescheide erging zugunsten der MJN Holdings Limited, die Teil der Mead Johnson Nutrition Group war.

Das Verwaltungsverfahren und der Beschluss der Kommission

Am 16.10.2013 leitete die Kommission das förmliche Prüfverfahren ein, um zu prüfen, ob die Nichtbesteuerung von Einkünften aus Zinsen und Nutzungsentgelten einen gegen die EU-Beihilferegeln verstoßenden selektiven Vorteil für die hiervon betroffenen Unternehmen begründet.

Am 01. 10.2014 teilte die Kommission dem Vereinigten Königreich von ihrem Beschluss mit, das Verfahren nach Art. 108 Abs. 2 AEUV auf die o.g. Steuervorbescheidspraxis auszuweiten.

Mit Beschluss vom 19.12.2018 (Beschluss EU 2019/700 der Kommission) stufte die Kommission zum einen die Nichtbesteuerung von Einkünften aus Passivzinsen und Nutzungsentgelten im ITA 2010 als eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare Beihilferegelung i.S.v. Art. 107 Abs. 1 AEUV ein. Zum anderen stufte sie die fünf bezeichneten Steuervorbescheide als mit dem Binnenmarkt unvereinbare Einzelbeihilfen ein. Die Beihilfen wurden demnach jeweils rechtswidrig unter Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 AEUV gewährt und die Kommission ordnete ihre Rückforderung an.

In ihrem Beschluss führt die Kommission aus, dass die Steuerbefreiung Unternehmen multinationaler Konzerne, die mit bestimmten Funktionen betraut sind (z.B. Gewährung interner Darlehen und Nutzung von Rechten fremden Eigentums), gegenüber anderen Unternehmen einen selektiven Vorteil verschafft. Die Steuerbefreiung sei darauf ausgerichtet gewesen, Gibraltar für multinationale Unternehmen attraktiver zu machen und führe tatsächlich dazu, dass solche Unternehmen, die multinationalen Konzernen angehören und aufgrund ihrer Funktion von den Steuerbefreiungen profitieren, weniger Körperschaftssteuer entrichten müssten als andere Unternehmen.

Selbiges gelte für die fünf Steuervorbescheide, soweit sie auch nach der Gesetzesänderung fortwirkten und die gegenständlichen Einkünfte zusätzlich auch noch nach der Gesetzesänderung von der Körperschaftssteuer ausnahmen.

Das Urteil des EuG

Am 15.07.2019 reichten Mead Johnson Nutrition (Asia Pacific), MJN Global Holdings BV, MJ BV und MJN US (die Unternehmensgruppe war sowohl von der gegenständlichen Steuerbefreiung betroffen als auch Empfänger einer der fünf Steuervorbescheide, zum gesellschaftsrechtlichen Hintergrund siehe Rn. 2-6 des Urteils) beim EuG Klage auf Nichtigkeit des Beschlusses der Kommission ein, soweit er

  • die Nichtberücksichtigung von Nutzungsentgelten im ITA 2010 als eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare Beihilferegelung erklärt,
  • den Steuervorbescheid als eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare Einzelbeihilfe erklärt
  • und die Rückforderung der auf Grundlage dieser Maßnahmen gewährten Beträge anordnet.

Mit seinem Urteil vom 06. April 2022 gab das EuG der Klage statt, soweit sie den Steuervorbescheid und die entsprechende Rückforderungsanordnung betraf. Im Übrigen wurde die Klage abgewiesen.

1. Zur Nichtbesteuerung von Nutzungsentgelten nach dem ITA 2010

Die Kläger rügen zunächst einige Rechtsfehler der Kommission bei der Einstufung der Nichtbesteuerung von Nutzungsentgelten als mit dem Binnenmarkt unvereinbare Beihilfe.

a) Kommission nicht zuständig

Die Kläger wenden zunächst eine Kompetenzüberschreitung der Kommission ein. Die Besteuerung von Unternehmen falle in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten. Indem die Kommission über ihre Zuständigkeit im Beihilfenrecht gegen nationale Steuerregelungen vorgeht, überschreite sie nicht nur die in Art. 5 EUV geregelten Befugnisse der Union, sondern missbrauche auch die ihr in Art. 17 Abs. 1 EUV zugewiesenen Aufgaben.

Die Kommission beruft sich auf Art. 116 AEUV, nach dem sie einschreiten darf, wenn Unterschiede in Vorschriften der Mitgliedsstaaten eine Binnenmarktverzerrung hervorrufen.

Das Gericht stellt unter Berufung auf Rechtsprechung des EuGH klar, dass den Klägern zwar zuzustimmen ist, dass Steuerregelungen in die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten fallen, sie diese Zuständigkeit aber trotzdem im Einklang mit EU-Recht ausüben müssen. Sie dürfen insbesondere keine Maßnahmen erlassen, die mit dem Binnenmarkt unvereinbare Beihilfen darstellen. Dementsprechend darf die Kommission eine Steuermaßnahme als Beihilfe einstufen, wenn die Voraussetzungen des Art. 107 Abs. 1 AEUV vorliegen. Bei der für die Prüfung eines Vorteils und der Selektivität zu bestimmenden „normalen Besteuerung“ eines Unternehmens muss sie allerdings die Steuerautonomie der Mitgliedstaaten berücksichtigen und ist an das national geltende Steuersystem gebunden. Berücksichtigt die Kommission diese Grundsätze, handelt sie innerhalb ihrer Kompetenz, die Einhaltung des Art. 107 Abs. 1 AEUV zu gewährleisten und verstößt weder gegen Art. 5 EUV noch gegen Art. 17 Abs. 1 EUV.

b) Vorteil und Selektivität

Sodann rügen die Kläger, die Kommission begehe einen Rechtsfehler bei der Anwendung des Art. 107 Abs. 1 AEUV, indem sie annimmt, dass die Nichtbesteuerung von Nutzungsentgelten den von der Regelung erfassten Unternehmen einen selektiven Vorteil gewähre.

Das Gericht stellt insofern vorab klar, dass es bei der Prüfung eines selektiven Vorteils irrelevant ist, ob die Nichtbesteuerung darauf beruht, dass bestimmte Kategorien von Einkünften von einem Einkommenssteuergesetz schon gar nicht umfasst sind oder aber zwar grundsätzlich besteuert werden, jedoch formell von einer Ausnahmeregelung profitieren. Denn nach ständiger Rechtsprechung (siehe u.a. verb. Rs. C-106/09 P und C-107/09 P, Rn. 87) unterscheidet Art. 107 Abs. 1 AEUV nicht nach den Gründen und Zielen einer staatlichen Maßnahme, sondern beschreibt diese nach ihren Wirkungen und somit unabhängig von den verwendeten Techniken. Die Wirkung der Maßnahme bleibt aber die gleiche (= Nichtbesteuerung), egal ob die gesetzgeberische Ausgestaltung bestimmte Einkünfte als implizite Ausnahme gar nicht erst umfasst oder sie als explizite Ausnahme vorsieht. Die Kläger hatten nämlich gerügt, die Kommission habe einen Rechtsfehler begangen, indem sie bei der Prüfung des selektiven Vorteils von einer „impliziten Ausnahme“ ausging, obwohl die gegenständlichen Einkünfte vom Steuergesetz gar nicht erfasst waren und deshalb keine Ausnahme von diesem System darstellen können.

Sowohl die Beurteilung eines Vorteils i.S.d. Art. 107 Abs. 1 AEUV als auch die Beurteilung der Selektivität kann nur in Bezug auf eine sog. „normale“ Besteuerung festgestellt werden. So liegt ein Vorteil vor, wenn eine Maßnahme Belastungen vermindert, die ein Unternehmen normalerweise zu tragen hat. Das „normale“ Steuersystem bildet gleichzeitig das Referenzsystem für die Prüfung, ob eine steuerliche Maßnahme insofern selektiv ist, dass sie bestimmte Unternehmen gegenüber den der „normalen“ Besteuerung unterliegenden Unternehmen steuerlich begünstigt.

Das Gericht bestätigt in seinem Urteil die Kommission, dass das in Gibraltar geltende „normale“ Steuersystem eine Besteuerung nach dem Territorialitätsgrundsatz vorsieht, wonach Einkommen, das in Gibraltar angefallen ist oder von dort stammt, steuerpflichtig ist. Das mit dem ITA 2010 eingeführte Steuersystem beruht demnach auf zwei Grundprinzipien: Dem Territorialitätsprinzip und dem Grundsatz, dass das gesamte bilanzierte Einkommen steuerpflichtig ist. Hierbei betont das Gericht abermals, dass die Anwendung einer gesetzgeberischen Technik nicht dazu führen kann, dass nationale Steuerregelungen nicht der Beihilfenkontrolle unterliegen. Ebenso wenig kann sie die Bestimmung des Referenzrahmens beeinflussen. Es spielt deshalb für die Beurteilung des Referenzrahmens keine Rolle, ob ein Gesetz, das grundsätzlich die Besteuerung des gesamten Einkommens vorsieht, die besteuerten Einkommenskategorien in einer Schedule positiv definiert und hierbei bestimmte Kategorien nicht aufführt oder ob es eine ausdrückliche Ausnahme für bestimmte Kategorien vorsieht bzw. negativ definiert, dass bestimmte Kategorien nicht umfasst sind. Der Effekt ist der gleiche.

In diesem Zusammenhang stellt das Gericht außerdem klar, dass die Frage der Auslegung nationalen Rechts durch die Kommission für die Zwecke der EU-Judikatur eine Frage der Tatsachenbeurteilung ist. Sie unterliegt somit den Regeln der Beweisaufnahme und der Beweislast. Es verwirft damit einige Argumente der Kläger, die diese so erstmals vor Gericht vorgetragen haben und verweist darauf, dass die Kommission ihre Auslegung des nationalen Rechts zulässigerweise größtenteils auf Angaben gestützt hat, die im Verwaltungsverfahren unmittelbar von den Behörden der betroffenen Mitgliedsstaaten übermittelt wurden. Der Kommission kann insofern nicht vorgeworfen werden, dass sie die Informationen als glaubwürdig und zutreffend erachtet und ihrer Prüfung zugrunde gelegt hat.

Weiter stellt das Gericht auf den Vorwurf der Kläger, die Kommission habe das Kriterium des Vorteils und das Kriterium der Selektivität durcheinander gebracht, klar, dass es sich hierbei zwar in der Tat um zwei unterschiedliche Kriterien handelt, sich diese bei der Prüfung von Steuermaßnahmen aber insofern überschneiden, dass für beide Kriterien bestimmt werden muss, welche Steuern ein Unternehmen in der Situation des Begünstigten normalerweise zu zahlen hätte.

Sodann bestätigt das Gericht die Kommission, dass die Nichtbesteuerung von Nutzungsentgelten der festgestellten „normalen“ Besteuerung in Gibraltar widerspricht, nach der das Territorialitätsprinzip gilt und das gesamte bilanzierte Einkommen steuerpflichtig ist. Sie stellt somit einen Vorteil für die betroffenen Unternehmen in Form einer Befreiung von Steuern, die ein Unternehmen in Gibraltar normalerweise zu zahlen hat, dar.

Um eine steuerliche Maßnahme als selektiv einzustufen, muss die Kommission nach Rechtsprechung des EuGH (siehe u.a. verb. Rs. C-20/15 P und C-21/15 P) in einem ersten Schritt die in dem Mitgliedstaat geltende allgemeine oder „normale“ Steuerregelung ermitteln und in einem zweiten Schritt darlegen, dass die in Rede stehende Maßnahme von diesem System insofern abweicht, als sie Unterscheidungen zwischen Wirtschaftsteilnehmern einführt, die sich im Hinblick auf das mit dieser allgemeinen Regelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden. Dies ist der Kommission nach Ansicht des Gerichts gelungen. Sie hat zutreffend das ITA 2010 mit den oben beschriebenen Grundprinzipien als „normale“ Steuerregelung ermittelt. Ebenso zutreffend hat sie dargelegt, dass die Nichtbesteuerung von Nutzungsentgelten überhaupt nur 10 multinationalen Unternehmen zugutekommt, die in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Lage waren, wie alle anderen in Gibraltar ansässigen Unternehmen, die in Gibraltar Einkünfte generieren oder deren Einkünfte aus Gibraltar stammen. Ebenso zutreffend war die Beurteilung der Kommission, dass es sich hierbei nicht etwa um eine zufällige Folge der Steuerregelung handelte, sondern die Maßnahme darauf ausgerichtet war, multinationale Unternehmen anzuziehen und zu bevorzugen.

2. Zum Steuervorbescheid

Die Kläger wenden sich gegen die Einstufung des Steuervorbescheides als nicht mit dem Binnenmarkt vereinbare Beihilfe vordergründig mit dem Argument, dass die Kommission gegen Art. 108 Abs. 2 AEUV und Art. 6 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 verstoßen habe. Sie habe in ihrem Beschluss vom 01.10.2014, das förmliche Prüfverfahren auf die Steuervorbescheidspraxis Gibraltars auszuweiten, nicht hinreichende Informationen über den erweiterten Inhalt des Prüfverfahrens übermittelt und die Beteiligten nicht in die Lage versetzt, hierzu Stellung nehmen zu können. Das Gericht gab der Rüge der Kläger statt.

Einleitend stellt das Gericht umfassend klar, dass sofern die Steuervorbescheide den Zeitraum betrafen, zu dem die Nichtbesteuerung nach dem ITA 2010 noch Anwendung fand, lediglich klarstellenden Charakter hatten und keine Beihilfemaßnahme zugunsten des jeweiligen Adressaten des Bescheides darstellten. Denn nach Rechtsprechung des EuGH stellen Einzelmaßnahmen, mit denen lediglich eine Beihilferegelung umgesetzt wird, bloße Maßnahmen zur Durchführung der allgemeinen Regelung dar (so u.a. in C-362/19 P, Rn. 74). Da die Steuerbefreiung als Beihilferegelung vor 2014 bereits unmittelbar auf Grundlage des ITA 2010 erfolgte, bestätigten die Steuervorbescheide bis zu diesem Zeitpunkt lediglich die Anwendung.

Sodann führt das Gericht aus, dass Art. 108 Abs. 2 AEUV und Art. 6 der VO 659/1999 erfordern, dass die Kommission die für das Verfahren relevanten Tatsachen und rechtlichen Erwägungen zusammenfasst und ihre vorläufige Bewertung einer Maßnahme als Beihilfe ebenso darlegt, wie die Gründe, aus denen sie Zweifel an der Binnenmarktvereinbarkeit der Maßnahme hat. Der Beschluss, ein förmliches Prüfverfahren einzuleiten oder zu erweitern muss Beteiligte des Verfahrens in die Lage versetzen, fundiert zur vorläufigen Auffassung der Kommission Stellung nehmen zu können. So muss die Kommission sicherstellen, dass ihr finaler Beschluss keinen Gegenstand hat, der im Eröffnungsbeschluss keinen Eingang gefunden hat. Hierbei handelt es sich um eine wesentliche Formvorschrift, deren Verletzung für sich genommen zur Aufhebung des Beschlusses führen kann (bzw. des Teils, der von der Verletzung betroffen ist).

In Anwendung dieser Grundsätze hob das Gericht den Beschluss der Kommission auf, soweit er den Steuervorbescheid betraf. Denn während die Kommission ihren finalen Beschluss insofern u.a. im Wesentlichen darauf stützte, dass die Steuervorbescheide den Klägern auch nach der Gesetzesänderung eine so gesetzlich nicht mehr vorgesehene Steuerbefreiung gewährten, hat sie dies in ihrem Beschluss, das förmliche Prüfverfahren zu erweitern, nicht klargestellt. Vielmehr ging aus dem Erweiterungsbeschluss in hinreichender Deutlichkeit lediglich hervor, dass die Kommission die Erteilung von Steuervorbescheiden auf der Grundlage untersuchte, dass sie die Steuervorbescheide als inhaltlich weitreichender als die gesetzliche Befreiung erachtete. Entsprechend konnten die Beteiligten zu den Erwägungen, auf die die Kommission ihren finalen Beschluss letztlich stützte, nicht Stellung nehmen. Nach Ansicht des Gerichtes hätte die Kommission in dem Zeitpunkt, in dem sie die zeitliche Anwendbarkeit der Steuervorbescheide als Anknüpfungspunkt für eine Einzelbeihilfe in Erwägung zog, einen erneuten Eröffnungsbeschluss oder einen erneuten Erweiterungsbeschluss erlassen müssen, um den Beteiligten die Möglichkeit zu geben, auch zu dieser Frage Stellung zu nehmen.

Fazit

Die Kommission dürfte sich durch das Urteil inhaltlich in ihrem Vorgehen, Steuermaßnahmen zugunsten multinationaler Konzerne einer strengen beihilferechtlichen Prüfung zu unterziehen, bestätigt sehen. Das Urteil verdeutlicht aber auch, dass hierbei nicht nur die Merkmale des Vorteils und der Selektivität sorgfältig zu prüfen sind, sondern auch zwischen den verschiedenen in Betracht kommenden Beihilfemaßnahmen und ihren Auswirkungen und Grundlagen in jeder Verfahrensphase aufmerksam differenziert werden muss. Die 2. Kammer des EuG äußert sich nämlich ausführlich zum Zusammenspiel aus Steuergesetz als Beihilfenregelung und Steuervorbescheid als mögliche Einzelbeihilfe. Hinsichtlich des Steuervorbescheides selbst wird der Kommission letztlich sogar zum Verhängnis, dass sie die Reichweite des Bescheides in verschiedenen Verfahrensphasen unterschiedlich beurteilte und ihr Ergebnis auf unterschiedliche Sach- und Rechtsfragen stützt.

*Diesen Beitrag schrieb Christopher Hanke während seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt bei MWP.

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