Die Kür der Champions

Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier verlautbart im Rahmen seiner Nationalen Industriestrategie 2030 im Wesentlichen Anforderungen an die europäische Industrie- und Wettbewerbspolitik. Die Unterordnung Europäischer Strategien und Ziele unter das nationale Interesse mag eine Referenz an den euroskeptischen Zeitgeist oder nur eine Ungeschicklichkeit bei der Wahl von Titel und Untertitel sein. Der Umstand, dass der letzte Politiker, der eine Agenda hatte und diese mit einer runden Jahreszahl versah, zwar Recht hatte, seine Partei aber auf diese Agenda nicht mehr angesprochen zu werden wünscht, hat Peter Altmaier jedenfalls nicht abgehalten.

Ungeachtet aller nahe liegender Polemik verdient das 16seitige Papier, das weder Vollständigkeit noch ungeteilte Zustimmung beansprucht, eine inhaltliche Befassung auch aus dem Blickwinkel des EU-Beihilferechts.

Aufhänger für den Wunsch des deutschen und des französischen Wirtschaftsministers, das Europäische Wettbewerbsrecht zurückzudrängen, ist die Versagung der Fusion der Zug-Sparten von Alstom und Siemens durch die Europäische Kommission. Dabei stellte sich die Frage einer Fusion nur, weil die Kommission das EU-Beihilferecht vor einigen Jahren nicht allzu strikt anwendete. Sie genehmigte Rettungs- und Umstrukturierungsbeihilfen zugunsten von Alstom in Höhe von über 3 Mrd. EUR (C58/2003). Siemens versuchte die Beihilfengewährung zu verhindern. Siemens vertrat die Auffassung, dass Alstom trotz der Beihilfen langfristig nicht rentabel arbeiten würde. Die Margen von Alstom bei der Bestellung von Eisenbahnmaterial seien zu gering. Alstom nehme nicht kostendeckende Aufträge herein, um sich mithilfe der Anzahlungen Liquidität zu verschaffen. Die Schwierigkeiten von Alstom würden schlicht auf unzureichenden Fähigkeiten beim Projekt- und beim Risikomanagement beruhen. Aus der Sicht von Siemens versprachen die Beihilfen auch keinen volkswirtschaftlichen Nutzen. Es herrsche ohnehin ausreichender Wettbewerb und ein Verschwinden von Alstom würde daran nichts ändern. Die Kommission beugte sich allerdings der Argumentation der französischen Regierung. Die französische Regierung argumentierte bereits damals wie der Bundeswirtschaftsminister heute. Der Untergang des Unternehmens sei ein wahrer Verlust für das Wirtschaftsgefüge in Europa. Hervorzuheben seien die technologischen Leistungen und die Führerschaft im Bereich Forschung und Entwicklung. Ein Marktaustritt von Alstom würde sich negativ auf die betroffenen Märkte auswirken; diese seien von hoher Konzentration gekennzeichnet, die sich dann weiter verstärken würde. Die Versorgung der Kunden mit einer Spitzentechnologie sei gefährdet.

Möglicherweise wäre Siemens bei einer rigideren Beihilfekontrollpolitik bereits heute der Europäische Champion, den die Fusion nach Vorstellung der deutschen und der französischen Regierung nunmehr hätte hervorbringen sollen. Jedenfalls verdeutlicht die damalige Argumentation von Siemens die Problematik des Zurückdrängens des Europäischen Wettbewerbsrechts.

Das punktuelle Zurückdrängen des EU-Beihilferechts bei Bedarf ist keine neue Forderung der EU-Mitgliedstaaten. Die Gründerstaaten hatten dies vor über 60 Jahren im EWG-Vertrag bereits vorgesehen. Auf Antrag eines Mitgliedstaates kann der Rat einstimmig entscheiden, dass eine Beihilfe als mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar gilt (Art. 92 Abs. 2 Uabs. 3 EWG-Vertrag, heute: Art. 108 Abs. 2 Uabs. 3 AEUV). Der Ratsbeschluss muss sich auf „außergewöhnliche Umstände“ zur Rechtfertigung dieses Vorgehens stützen. Einer Beteiligung der Kommission bedarf es nicht, wenn der Rat innerhalb von drei Monaten entscheidet. Der praktische Nutzen dieser Bestimmung ist wegen des Einstimmigkeitserfordernisses eher gering. Es bedarf keiner großen Phantasie, dass sich in einem hypothetischen Beihilfeverfahren zugunsten von Alstom und Siemens die spanische Regierung einem wettbewerbsfeindlichen Ansinnen der deutschen und der französischen Regierung in den Weg gestellt hätte, um die Interessen der spanischen Zughersteller CAF und Talgo zu wahren. Letzterer hat schließlich seine Technologieführerschaft gerade mit einem Großauftrag der Deutschen Bahn bewiesen. Eine Reform des Europäischen Wettbewerbsrechts kann daher realistisch nicht am Mitspracherecht der Mitgliedstaaten ansetzen, die sich im Zweifelsfall verpflichtet sehen, unternehmerische Partikularinteressen durchzusetzen.

Es finden sich aber in dem Altmaier-Papier zwei ausbaufähige Ansätze, die der Europäischen Kommission gut anstehen würden:

  1. Die Übernahme von Unternehmensbeteiligungen aus industriepolitischen Erwägungen durch einen Europäischen Fonds im gemeinsamen europäischen Interesse (Art. 107 Abs. 3 lit. b, 1. Alternative AEUV). Wettbewerbspolitisch heikel ist bei den Aspiranten auf den Titel eines Europäischen Champions ohnehin weniger die Übernahme als die Exit-Strategie, damit sich das Unternehmen nicht zu sehr vom Wettbewerb geschützt fühlt.
    Die Definition, was Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse sind, die die Kommission zuletzt 2014 vorgenommen hat, sollte die Kommission auf Grundlage des deutsch-französischen Vorstoßes erweitern.
  2. Beihilfen in Bereichen von Innovationen mit hoch innovativen Basiswirkungen sind durch die AGVO zwar bereits teilweise freigestellt und auch nach dem Unionsrahmen für staatliche Beihilfen zur Förderung von Forschung, Entwicklung und Innovation genehmigungsfähig, allerdings mit unveränderlichen Förderhöchstsätzen. Eine größere Flexibilität bei der Genehmigung höherer Fördersätze könnte ein wirksames Instrument für die angestrebten Initialzündungen im Bereich der Innovationen sein. Allerdings ist abschließend anzumerken, dass die deutsche Politik auch gut beraten wäre, von der Kommission angebotene Instrumente anzunehmen. Der von der Kommission angepriesene „rückzahlbare Vorschuss“, der bei Misserfolg des Projekts gerade nicht oder bei Teilerfolg nur teilweise zurückzuzahlen ist, führt in der deutschen Förderlandschaft zu Unrecht noch immer ein Schattendasein.

Diesen Beitrag schrieb Rechtsanwalt Christoph von Donat während seiner Zeit bei Müller-Wrede & Partner

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