Neun Monate nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist in diesem Sommer der Flughafen Lübeck Blankensee an einen Investor aus der Region verkauft worden. Das ist nun schon der zweite Rettungsversuch für diesen Regionalflughafen. Mit der aktuellen Frage der Lebensfähigkeit dieses Flughafens hatte sich allerdings Generalanwalt Nils Wahl in seinen Schlussanträgen vom 15.09.2016 nicht zu befassen. Sein Thema war vielmehr erneut die Vergangenheit des Flughafens Lübeck und in diesem Zusammenhang insbesondere die Frage der Selektivität der Entgeltordnung aus dem Jahr 2006.
Was bisher geschah
Im Jahr 2007 hatte die Kommission das förmliche Prüfverfahren über die Entgeltordnung 2006 zur Festlegung der Flughafenentgelte eröffnet (Staatliche Beihilfe C 24/07 (ex NN 71/06)). In dem zwischen der Fluggesellschaft Ryanair und dem Flughafen Lübeck abgeschlossenen Vertrag vermutete die Kommission eine beihilferelevante Begünstigung der Fluggesellschaft aufgrund der Vereinbarung zu niedriger Entgelte. Gegen den Eröffnungsbeschluss hat der Flughafen Klage beim Gericht der Europäischen Union (EuG) eingelegt und beantragte, den Beschluss der Kommission insoweit für nichtig zu erklären, als mit ihm das förmliche Prüfverfahren hinsichtlich der Entgeltordnung 2006 eingeleitet wurde (Rs. T-461/12). Das EuG gab dem Klageantrag insoweit statt, als dass es die Selektivität der Entgeltordnung 2016 verneinte. Für die Frage, ob eine Maßnahme selektiv sei, käme es ausschließlich auf die gegenwärtigen und potentiellen Nutzer (hier Fluggesellschaften) einer Infrastruktur (hier Flughafen) an. Entscheidend für die Frage der Selektivität sei dabei, inwieweit eine Begünstigung in diesem Rahmen diskriminierungsfrei erfolge. Auf Kunden anderer Unternehmen des Sektors, die ähnliche Güter oder Dienstleistungen zur Verfügung stellten, komme es indes nicht an.
Gegen dieses Urteil hat die Kommission am 20.11.2014 Klage eingereicht (Rs. C-524/14 P). Im Rahmen dieses Verfahrens hat sich Generalanwalt Nils Wahl am 15.9.2016 in seinen Schlussanträgen insbesondere mit zwei Aspekten auseinandergesetzt: Zum einen ging es erneut um die Frage der Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage gegen den Eröffnungsbeschluss eines förmlichen Prüfverfahrens der Kommission. Zum anderen wollte sich die Kommission vom EuG in der Frage der Selektivität der Entgeltordnung 2006 auch nach dem erstinstanzlichen Urteil offensichtlich nicht geschlagen geben und brachte daher dieses Thema in die zweite Runde vor den EuGH.
Zulässigkeit der Klage
Die Kommission hat beantragt, die Klage als unzulässig abzuweisen, da der Flughafen durch den Eröffnungsbeschluss nicht individuell betroffen sei und ihm außerdem das gegenwärtige Rechtsschutzinteresse fehle.
Individuelle Betroffenheit
Nichtigkeitsklage gegen einen Kommissionsbeschluss vor dem EuG kann nach Art. 263 Abs. 4 AEUV nur einlegen, wer unmittelbar und individuell betroffen ist. Nach der sog. „Plaumann-Formel“ ist die Voraussetzung der individuellen Betroffenheit erfüllt, wenn die angefochtene Handlung den Kläger wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert, wie den Adressaten (Rs. 25/62, Plaumann/Kommission). Von einer individuellen Betroffenheit ist auszugehen, wenn eine natürliche oder juristische Person durch die konkrete Handlung in ihrer eigenen Befugnis beschränkt wird, (die u.a. in der Gewährung einer mutmaßlichen Beihilfe an Unternehmen besteht), diese in der von ihr gewünschten Weise auszuüben und daraus Änderungen der Vertragsbeziehungen zu dem potentiell begünstigten Unternehmen resultieren.
Entscheidend kam es hier also auf die Frage an, ob der Flughafen Lübeck aufgrund nationaler Vorschriften (§ 43a Abs. 1 LufVZO) bei Erlass und Umsetzung der Entgeltordnung 2006 über eine eigene Befugnis verfügt. Das Gericht hatte bereits in erster Instanz festgestellt, dass der Flughafen für den Erlass der Entgeltordnung 2006 zuständig war und die Genehmigungsbehörde über keine eigene Befugnis verfügt. Da der EuGH als Rechtsmittelinstanz keine eigene Auslegung nationaler Rechtsvorschriften vornimmt, sondern vielmehr nur prüft, ob das Gericht die Anwendung nationaler Rechtsvorschriften verfälscht, schließt sich hier der Generalanwalt (trotz möglicher Zweifel) im Ergebnis dem Ansatz des EuG an und bejaht daher die individuelle Betroffenheit des Flughafens.
Rechtsschutzinteresse
Auch vom Vorliegen eines gegenwärtigen Rechtsschutzinteresses geht Generalanwalt Wahl aus. Unstreitig scheint zwischen den Parteien, dass zum Zeitpunkt der Klageerhebung durch den Flughafen (an dessen Stelle trat später die Hansestadt Lübeck in den Rechtsstreit), dieser ein bestimmtes und gegenwärtiges Interesse hatte. Strittig ist jedoch zwischen den Parteien, ob das Rechtsschutzinteresse nach dem Verkauf des Flughafens an eine Privatgesellschaft auch weiter fortbesteht. Aus Sicht der Kommission sei die Aussetzung der Durchführung der mutmaßlichen Beihilferegelung die einzige Auswirkung einer Verfahrenseröffnung. Eine solche Aussetzung sei jedoch vor dem Verkauf nicht erfolgt, damit auch ein Rechtsschutzinteresse der Hansestadt im Laufe des Verfahrens entfallen.
Generalanwalt Wahl verweist in diesem Zusammenhang zunächst auf die einschlägige Rechtsprechung. Unter Bezugnahme auf das Urteil des EuGH in der Rs. C-77/12 P „Deutsche Post“ führt er aus, dass im Zusammenhang mit der Eröffnung eines förmlichen Prüfverfahrens zu berücksichtigen sei, dass der nationale Richter im Rahmen einer Wettbewerbsklage, entsprechend der Rechtsprechung der europäischen Gerichte, „alle Konsequenzen aus dem Verstoß gegen das Durchführungsverbot des Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV ziehen müsse“. Damit bestehe die Möglichkeit, dass ein nationales Gericht nach wie vor die Aussetzung der Beihilfe, verbunden mit der Rückzahlung der bereits gewährten Mittel – möglicherweise sogar im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes – feststelle. Im Ergebnis schließt sich der Generalanwalt daher auch in diesem Punkt dem EuG an, dass der Eröffnungsbeschluss auch über die Privatisierung hinaus Wirkung entfalte und den Flughafen weiterhin bis zum Abschluss des Verfahrens belaste. Dies insbesondere deshalb, weil die Entgeltordnung 2006 nach wie vor in Kraft ist.
Selektivität der Entgeltordnung 2016
Nach gefestigter Rechtsprechung gilt eine staatliche Maßnahme als selektiv, wenn sie geeignet ist, bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige gegenüber anderen Unternehmen zu begünstigen, die sich im Hinblick auf das mit der betreffenden Maßnahme verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden.
Zunächst macht Generalanwalt Wahl deutlich, dass aus seiner Sicht auch für die Frage, ob eine Gebühren- und Entgeltordnung selektiv sei, auf das durch Rechtsprechung und Entscheidungspraxis entwickelte dreistufige Prüfungsschema für die Frage der Selektivität von Steuer- und Abgabenregelungen zurückgegriffen werden könne. Die Entwicklung eines alternativen Prüfungsschemas „sei nicht angebracht“. Dabei stützt er sich auf das Urteil „Black cabs“ (Rechtssache C‑518/13), Blogbeitrag vom 02.04.2015.
Für die Überprüfung, ob eine Maßnahme selektiv sei, komme es daher auf der ersten Stufe auf die Bestimmung der Rahmenregelung an. Eine solche Rahmenregelung sieht der Generalanwalt hier in der Entgeltordnung 2016. Dem Ansatz des Gerichts folgend, stellt er dabei auf den Nutzerkreis der Infrastruktur ab. Hier sind das die Fluggesellschaften, die am Flughafen Lübeck starten und landen. Nicht in den Bezugsrahmen fallen daher andere Anbieter, wie z.B. der Flughafen Hamburg und die dortigen Fluggesellschaften. Dem Ansatz der Kommission, es liege hier ein Fall der sektoralen Selektivität vor, da die Maßnahme nur einem Wirtschaftszweig – nämlich der Gruppe von Fluggesellschaften, die den Flughafen Lübeck nutzen – zu Gute komme, widerspricht der Generalanwalt, da er das Kriterium bei Maßnahmen eines Flughafenbetreibers, der nur zum Erlass der dort geltenden Entgeltordnung befugt ist, nicht für anwendbar hält. In Anlehnung an die alleinige Steuerzuständigkeit von Regionen stellt er daher auf die Frage der Zuständigkeit für den Erlass der Entgeltordnung 2016 ab. Diese liege allein beim Flughafen Lübeck. Bei der Bestimmung der Entgeltordnung weiche dieser aufgrund seiner alleinigen Zuständigkeit nicht von einer nationalen Entgeltordnung ab, sondern handele ausschließlich im Rahmen seiner Zuständigkeit.
Erst auf zweiter Ebene sei dann im Rahmen des Prüfungsschemas der Selektivität zu prüfen, ob bestimmte Unternehmen – hier bestimmte Fluggesellschaften wie zB. Ryanair – die diesen Flughafen nutzten, gegenüber anderen einen Vorteil erhalten. Ausschlaggebend für die Frage einer diskriminierenden Differenzierung könnten daher nur Fluggesellschaften sein, die tatsächlich auch den Flughafen Lübeck bedienen. Aufgabe der Kommission wäre es daher im Rahmen der Prüfung gewesen, zu belegen, dass konkrete Maßnahmen zwischen Unternehmen differenzierten, die sich im Hinblick auf das verfolgte Ziel jedoch in einer vergleichbaren Lage befanden.
Im konkreten Verfahren habe die Kommission jedoch nicht ausreichende geprüft, dass eine (nicht unübliche) Differenzierung im Hinblick auf Preisnachlässe oder Rabatte unter Bezugnahme auf das Passagieraufkommen von Fluggesellschaften an dem betreffenden Flughafen kein gerechtfertigtes Differenzierungskriterium sei.
Ausblick
Im Ergebnis stützt Generalanwalt Wahl mit seinen Schlussanträgen das Urteil des EuG. Den Ansatz der Kommission, dass jede Entgelt- oder Gebührenordnung mit Gültigkeit für eine bestimmte staatliche Einrichtung stets selektiv sei, hält er dabei für nicht überzeugend. Unabhängig von dogmatischen Ansatz des Generalanwalts ist dabei insbesondere dem EuG in dem Punkt zu zustimmen, dass der Ansatz der Kommission in der Praxis zu einer übermäßigen Ausweitung des Beihilfenbegriffs führe. Es bleibt daher zu hoffen, dass auch der EuGH hier diesem Ansatz folgt und die Selektivität ablehnt.
Diese Frage dürfte im Übrigen auch über das Thema der Flughafenentgelte hinaus – insbesondere im Zusammenhang mit der Nutzung anderer öffentlicher Infrastrukturen – von erheblicher Bedeutung sein. Dieser Bereich – aufgewirbelt durch das Urteil des EuGH in der Rs. Leipzig-Halle (Rs. C‑288/11 P) – kommt nicht zuletzt durch verschiedene Freistellungstatbestände in der AGVO auf Errichterebene gerade beihilferechtlich zur Ruhe. Der von der Kommission in dem Verfahren vertretene Ansatz zur grundsätzlichen Selektivität von Entgelt- und Gebührenordnungen im Bereich staatlicher Einrichtungen würde auf Nutzerebene den Beihilfentatbestand erneut unnötig aufblähen.
Diesen Beitrag verfasste Rechtsanwältin Gabriele Quardt in ihrer Zeit bei Müller-Wrede & Partner