Alles klar nach Eesti Pagar? Begrenzung der Rückforderung rechtswidriger Beihilfen durch Anwendung der AGVO

Mit dem Urteil in der Rechtssache „Eesti Pagar“ (C-349/17 vom 05.03.2019) hat der EuGH deutlich gemacht, dass die beihilfegewährenden Stellen – ebenso wie die nationalen Gerichte – die Verantwortung trifft, für die volle Wirksamkeit des beihilferechtlichen Durchführungsverbots (Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV) zu sorgen. Hieraus folgt u.a., dass Beihilfengeber grundsätzlich für die Rückforderung einer Beihilfe sorgen müssen, sofern sie feststellen, dass eine mutmaßlich als freigestellte Beihilfe gewährte Förderung den Freistellungsvoraussetzungen (z.B. der AGVO) doch nicht entspricht. In der Praxis stellte sich angesichts dieser Verpflichtungen die Frage, welche Spielräume den Behörden verbleiben, wenn z.B. bei der Bewilligung einer Zuwendung ein unpassender AGVO-Tatbestand gewählt wurde und dies erst nachträglich auffällt. Kurz vor Ostern hat der Gerichtshof insoweit wohl für ein wenig zusätzliche Klarheit und Flexibilität gesorgt: Im Rahmen des Urteils zum Vorabentscheidungsverfahren „Autonome Provinz Bozen“ vom 7. April 2022 (verb. Rechtssachen C-102/21 und C-103/21) hat der EuGH eher beiläufig die „Eesti Pagar“-Rechtsprechung ergänzt.

Doch der Reihe nach:

Die Ausgangsrechtsstreite:

Die Ausgangsrechtsstreite des Vorabentscheidungsverfahrens sind schnell erzählt:

Am 25. Juli 2012 genehmigte die Europäische Kommission eine italienische Beihilferegelung, nach der Investitionsbeihilfen im Höhe von bis zu 80 % der Kosten des Baus von kleinen Wasserkraftwerken zur Energieversorgung zum Eigenverbrauch gewährt werden konnten. Empfänger der Beihilfen sollten Unternehmen sein, denen wegen ihrer geografischen Lage ein Anschluss an das Stromnetz nicht unter angemessenem Aufwand durchführbar ist. Die Laufzeit der Regelung wurde in der Genehmigung mit dem Zeitraum 2011-2016 angegeben. Im Jahr 2018 bewilligte und gewährte die Autonome Provinz Bozen auf der Grundlage der Regelung u.a. den Klägerinnen der Ausgangsrechtsstreite – beide jeweils Eigentümerinnen von Almen im Berggebiet der Autonomen Provinz Bozen – Beihilfen in Höhe der zulässigen Maximalförderung. Im Jahr 2020 informierte die zuständige Behörde die Zuwendungsempfängerinnen dann darüber, dass die Beihilferegelung, die Grundlage ihrer Förderung war, bereits am 31.12.2016 und mithin vor Bewilligung ihrer Förderung ausgelaufen sei. Ebenso teilte die Behörde mit, dass die Förderung deshalb mit der geltenden AGVO in Einklang stehen müsse und nach der einschlägigen Regelung des Art. 41 AGVO die Höhe auf 65 % der beihilfefähigen Kosten begrenzt sei. Folglich widerrief die zuständige Behörde teilweise ihre Bewilligungsentscheidung, reduzierte den bewilligten Betrag auf den nach der AGVO zulässigen Betrag und forderte den überzahlten Betrag zuzüglich Zinsen von den Empfängerinnen zurück. Hiergegen wendeten sich diese mit Klagen vor dem vorlegenden Verwaltungsgericht. Dieses setzte die Verfahren aus und legte dem EuGH mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vor. Diese betrafen eigentlich die Frage, ob es sich bei der gewährten Förderung um missbräuchliche Beihilfen handele, welche Pflichten bei einer entsprechenden Einordnung für die mitgliedstaatlichen Behörden erwachsen würden und ob die Beihilfen mit dem Binnenmarkt vereinbar wären.

Feststellungen des EuGH

Auf die ersten Vorlagefragen hin stellte der EuGH fest, dass die Genehmigung der Beihilferegelung durch die Kommission auf den Zeitraum bis zum 31.12.2016 beschränkt war. Beihilfen, die nach diesem Zeitraum auf der Grundlage der Regelung gewährt wurden, seien somit nicht bestehende Beihilfen oder missbräuchlich i.S.v. Art. 1 lit. g der Verordnung 2015/1589, sondern stellten neue Beihilfen dar, die unter Verstoß gegen das Durchführungsverbot gewährt wurden. Es handelte sich damit um rechtswidrige Beihilfen. Vor diesem Hintergrund formulierte der EuGH die zweite Vorlagefrage dahingehend um, welche Verpflichtungen die mitgliedstaatlichen Behörden im Umgang mit rechtswidrigen Beihilfen treffen.

Dies gab dem Gerichtshof zunächst Gelegenheit, die zuletzt im Urteil „Eesti Pagar“ zusammengefassten Grundsätze zu wiederholen und zu bestätigen (siehe zum Urteil Eesti Pagar im Einzelnen auch: Eesti Pagar oder die Entzauberung der AGVO – BeihilfenBlog (beihilfen-blog.eu)). So betonte der Gerichtshof die unmittelbare Wirkung des Durchführungsverbots des Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV und die Rolle, die daraus folgend den nationalen Gerichten und den mitgliedstaatlichen Verwaltungsbehörden zukomme. Diese müssten für die volle Wirksamkeit der Bestimmung Sorge tragen und mithin sämtliche Konsequenzen aus der Verletzung von Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV ziehen. Dies umfasse insbesondere auch die Anordnung von Maßnahmen, die geeignet sind, der Rechtswidrigkeit der Durchführung der Beihilfe abzuhelfen, damit der Empfänger vor einer Entscheidung der Kommission nicht weiterhin frei über die Beihilfe verfügen könne. Für die nationalen Verwaltungsbehörden folge hieraus, dass es ihnen obliege, eine rechtswidrige Beihilfe aus eigener Initiative zurückzufordern, wenn sie einen Verstoß gegen das Durchführungsverbot feststellen. Nach Zitierung dieser bekannten Grundsätze ergänzt der Gerichtshof in Randnummer 49 des Urteils dann aber – recht harmlos und unscheinbar – folgende Feststellung:

Hinzuzufügen ist, dass in einem solchen Fall [gemeint ist die Verpflichtung der Verwaltungsbehörden zur Rückforderung aus eigener Initiative] der betreffende Mitgliedstaat grundsätzlich nicht daran gehindert ist, die Rückzahlung auf den Teil der Beihilfe zu beschränken, der nicht in die in der Verordnung Nr. 651/2014 [d.h. der AGVO] festgelegten Kriterien erfüllt.“

Der Inhalt dieser Feststellung dürfte in der Praxis von erheblicher Relevanz sein: War nämlich bislang nicht wirklich klar, ob die Rückzahlung rechtswidriger Beihilfen durch die mitgliedstaatlichen Behörden ohne eine spätere Genehmigungsentscheidung der Kommission begrenzt werden kann (wie nach der CELF-Rechtsprechung des EuGH möglich) und somit grundsätzlich nur eine vollständige Rückforderung des Beihilfebetrages zur Gewährleistung der Wirksamkeit des Durchführungsverbots in Betracht gezogen werden kann, öffnet der EuGH nun den Weg zu einer Beschränkung der Rückforderung auf den Betrag der Beihilfe der nicht von der AGVO gedeckt ist. Demnach kann eine nationale Stelle die Gewährung einer Beihilfe (teilweise) retten, wenn und soweit die Maßnahme die Kriterien für eine Freistellung nach der AGVO erfüllt.

Bewertung

Der Teufel dieser Öffnung dürfte in der Praxis aber – wie so häufig – im Detail liegen: Dass die Tragweite der Feststellung des EuGH mit Vorsicht zu genießen ist, impliziert schon die vorsichtige Formulierung der Randnummer 49, wonach die Mitgliedsstaaten „grundsätzlich nicht daran gehindert […]“ sind, entsprechend zu verfahren. Zu berücksichtigen ist insoweit der Sachverhalt, der dem Vorabentscheidungsverfahren zugrunde lag und die Reichweite der Aussagen des EuGH: Der Gerichtshof hatte im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nicht zu untersuchen, ob die Voraussetzungen des von der Behörde insofern angeführten Art. 41 AGVO auch tatsächlich erfüllt waren. Dies hatte das vorlegende Gericht als unstreitig unterstellt. Ferner bleibt nach den knappen Ausführungen des EuGH unklar, ob für eine Reduzierung der Rückforderung die Voraussetzungen der Freistellung nach der AGVO im Zeitpunkt der Gewährung vorliegen müssen oder ob es genügt, dass die Freistellungsvoraussetzungen in dem Zeitpunkt abgebildet werden können, in dem die Rechtswidrigkeit der Beihilfe festgestellt wird. Für ersteres spricht, dass es in diesem Fall an einem Verstoß gegen das Durchführungsverbot im Umfang der freigestellten Beihilfe fehlen würde. Für die Frage des Zeitpunktes des Verstoßes gegen das Durchführungsverbot ist der Zeitpunkt der Gewährung der Beihilfe maßgeblich. D.h. der Zeitpunkt, in dem der Empfänger nach dem geltenden nationalen Recht einen Rechtsanspruch auf die Beihilfe erwirbt (siehe Urteile des Gerichtshofs vom 21.03.2013 in der Rs. C-129/12, Magdeburger Mühlenwerke und Urteil vom 25.01.2022 in der Rs. C-638/19, Gebr. Micula/European Food). Liegen in diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen der AGVO für eine Freistellung vor, fehlt es jedenfalls im freigestellten Umfang an einer rechtswidrigen Beihilfe. Bei entsprechendem Vorgehen, würde allerdings regelmäßig die Freistellungsvoraussetzung des Art. 9 AGVO Probleme bereiten. Demnach ist zu gewährleisten, dass die Kurzbeschreibungen nach Art. 11 AGVO und Anhang II sowie der Zugang zum Wortlaut der Beihilfemaßnahme veröffentlicht werden und bei Einzelbeihilfen über 500.000 EUR die Transparenz nach Art. 9 Abs. 1 lit. c) AGVO und Anhang III hergestellt wird. Die Schwierigkeit die Erfüllung von Art. 9 AGVO nachträglich für den Zeitpunkt der Gewährung der Beihilfe abzubilden, spräche insoweit eher dafür anzunehmen, dass eine Begrenzung der Rückforderung schon in Betracht kommt, wenn sämtliche Freistellungskriterien vorliegen und die Veröffentlichungspflichten des Art. 9 AGVO in dem Zeitpunkt erfüllt werden, in dem die rechtswidrige Beihilfe festgestellt wird. Es bleibt abzuwarten, ob die Rechtsprechung hier zeitnah weitere Konkretisierungen liefern wird.

Das Urteil vom 07.04.2022 scheint den mitgliedsstaatlichen Stellen somit zwar eine Möglichkeit zu eröffnen, die Rückforderung von Beihilfen, die unter Verstoß gegen das Durchführungsverbot gewährt wurden, mittels Anwendung der AGVO zu begrenzen. Dies kann sich grundsätzlich in verschiedenen Konstellationen als nützlich erweisen, wie z.B. in Fällen, in denen eine genehmigte Beihilferegelung nicht oder nicht mehr anwendbar ist, die auf Grundlage der Regelung erlassene Maßnahme aber die Freistellungsvoraussetzungen der AGVO erfüllt oder in Fällen, in denen ein anderer Freistellungstatbestand der AGVO erfüllt ist als derjenige, auf deren Voraussetzungen sich die beihilfengewährende Stelle zunächst gestützt hatte. Inwieweit diese Möglichkeit aber auch tatsächlich von praktischem Nutzen sein wird, wird abzuwarten sein, da sich noch mehrere Folgefragen stellen. Denkbar dürfte es aber sein, dass in Fällen, in denen sich ein zunächst herangezogener Freistellungstatbestand später nicht mehr als passend erweist, ein anderer Tatbestand der AGVO aber schon und die Voraussetzungen dieser Freistellung als erfüllt angesehen werden können, die Rückforderung auf den überschießenden Beihilfebetrag zu begrenzen (jedenfalls bei Einzelbeihilfen unterhalb des Betrages von 500.000 EUR). Aber auch hier wird der jeweilige Einzelfall stets auf die Umsetzbarkeit zu prüfen sein müssen.

*Diesen Beitrag schrieb Rechtsanwältin Julia Lipinsky gemeinsam mit Rechtsanwalt Christopher Hanke während ihrer Tätigkeit bei Müller-Wrede & Partner.

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