Prüfungskompetenz und Prüfungsmaßstab der Kommission im Anwendungsbereich der AGVO

Bereits in seinem Urteil vom 9. September 2020 hat sich das EuG in der Rechtssache Kerkosand mit der Prüfungskompetenz und dem Prüfungsmaßstab der Kommission im Anwendungsbereich der AGVO beschäftigt.

Das Verfahren bei der EU-Kommission

Die slowakische Innovations- und Energieagentur gewährte dem Unternehmen NAJPI in 2013 auf Grundlage der Staatlichen Beihilferegelung zur Einführung innovativer und fortgeschrittener Technologien im Industrie- und Dienstleistungsbereich eine Beihilfe. Beihilfen auf Grundlage dieser Förderrichtlinie galten – bei Einhaltung der entsprechenden Voraussetzungen – als nach der VO (EG) 800/2008 freigestellt.

Kerkosand als Wettbewerber des Beihilfenempfängers legte gegen diese Beihilfe Beschwerde bei der Kommission ein, mit dem Argument, die Voraussetzungen der Freistellungsverordnung lägen nicht vor. Insbesondere handele es sich bei NAJPI nicht um eine KMU.

Im Juli 2017 erließ die Kommission den Beschluss C(2017) 5050 (SA. 38121) über die Investitionsbeihilfe zugunsten von NAJPI und kam zu dem Ergebnis, dass die Beihilfe sowohl die Voraussetzungen der Verordnung Nr. 800/2008 als auch die Voraussetzungen der Verordnung (EU) Nr. 651/2014 erfüllt und es sich bei NAJPI um ein KMU handelt. Die Beihilfe sei somit von der Anmeldepflicht befreit gewesen und müsse als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden.

Das Urteil des EuG

Gegen diese Entscheidung erhob Kerkosand Nichtigkeitsklage vor dem Europäischen Gericht erster Instanz (EuG). Das Urteil vom 9. September 2020 in der Rs. T-745/17 hat insbesondere zu folgenden Punkten über das eigentliche Verfahren hinausgehende Bedeutung:

Prüfungskompetenz der Kommission im Anwendungsbereich der AGVO

Das EuG stellt unter Bezugnahme auf die Urteile Rs. C‑654/17 Bayerische Motoren Werke und Rs. C‑349/17 Eesti Pagar, klar, dass die Kommission mit dem Erlass einer Freistellungsverordnung ihre Prüfungsbefugnisse im Bereich staatlicher Beihilfen nicht an die Mitgliedstaaten delegiert hat. Die Überwachungsbefugnis der Kommission – insbesondere hinsichtlich der Einhaltung der grundsätzlich bestehenden Notifizierungspflicht und des Durchführungsverbots – bleiben weiterhin bestehen. Damit ist die Kommission auch zur Kontrolle von Beschwerden verpflichtet, deren Gegenstand die Missachtung von Bestimmungen einer Freistellungsverordnung ist. Ein Mitgliedstaat ist nur von seiner Anmeldepflicht befreit, wenn eine Beihilfemaßnahme die Voraussetzungen der Freistellungsverordnung erfüllt.  Bei Verstoß gegen die Freistellungsverordnung muss die Kommission die gewährte Beihilfe entweder von Amts wegen oder im Rahmen der Beschwerde eines Betroffenen anhand der Art. 107 und 108 AEUV prüfen.

Daraus ergibt sich, dass die Kommission auch mit dem Erlass der AGVO den nationalen Stellen keine Befugnis zur endgültigen Entscheidung in Bezug auf den Umfang der Freistellung von der Anmeldepflicht übertragen hat, da sich diese Stellen vergewissern müssen, dass ihre Entscheidungen im Einklang mit der Verordnung stehen. Sollte nach Auffassung eines Mitgliedstaats die Voraussetzungen AGVO erfüllt sein, gilt damit allenfalls „eine Vermutung der Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt“. Diese kann allerdings sowohl durch ein nationales Gericht oder eine nationale Behörde als auch von der Kommission überprüft werden. Die ausschließliche Zuständigkeit für die Beurteilung der Zulässigkeit einer auf Grundlage der AGVO gewährten Beihilfe und damit die Prüfung, ob diese mit dem Binnenmarkt nach Art. 107 Abs. 3 AEUV vereinbar ist, verbleibt bei der Kommission. 

Prüfungsmaßstab für die Vereinbarung von Beihilfen – Verhältnis von AGVO und Leitlinien

Das EuG führt aus, dass es sich bei der Überprüfung der Kommission, ob ein Mitgliedstaat die Voraussetzungen der AGVO richtig angewendet hat, um eine „reine Rechtmäßigkeitskontrolle“ handelt. Freistellungstatbestände enthalten gegenüber den Mitgliedstaaten und Normunterworfenen abschließende Regelungen. Diese sind rechtlich bindend und nach Art. 288 Abs. 2 AEUV in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbar. Daher steht der Kommission im Rahmen dieser Rechtmäßigkeitskontrolle kein Ermessen zu. Jede andere Auslegung würde nach Ansicht des EuG zur Rechtsunsicherheit bei der Anwendung der AGVO führen. Nationale Behörden, die bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Freistellungstatbestandes davon ausgehen dürfen, die Maßnahme ohne Notifizierung durchführen zu können, müssten anderenfalls damit rechnen, dass die Kommission bei Aufgreifen einer solchen Beihilfe ex officio oder aufgrund einer Wettbewerbsbeschwerde ex post im Rahmen einer Ermessensentscheidung zu einem anderen Ergebnis kommen kann. Gestützt wird dieser Ansatz durch den siebten Erwägungsgrund der AGVO, der besagt, dass nur staatliche Beihilfen, die nicht von ihr erfasst werden, weiter der in Art. 108 Abs. 3 AEUV vorgesehenen Anmeldepflicht unterliegen.

Ermessen steht der Kommission daher ausschließlich im Rahmen der Vereinbarkeitsprüfung nach Art. 107 Abs. 3 AEUV zu. Diese muss die Kommission durchführen, wenn sie im Rahmen der Rechtmäßigkeitskontrolle festgestellt hat, dass die Voraussetzungen der AGVO nicht erfüllt sind. Im Rahmen der Prüfung der Genehmigung auf Grundlage von Art. 107 Abs. 3 AEUV hat die Kommission darüber hinaus auch sekundärrechtliche Vorschriften wie im konkreten Fall die Regionalleitlinien bei der Ausübung ihres Ermessens zu berücksichtigen. Diese seitens der Kommission selbstauferlegte Verhaltensregeln spielen jedoch im Rahmen der Rechtmäßigkeitskontrolle – also der Untersuchung, ob die Voraussetzungen der Freistellung erfüllt sind – keine Rolle. Neben den bereits oben ausgeführten Argumenten insbesondere deshalb, da diese sekundärrechtlichen Vorschriften höherrangigen Rechts einschließlich der Freistellungsverordnung nicht abbedingen können. Daher sind also Vorgaben aus Leitlinien nur im Rahmen der Vereinbarkeitsprüfung zu berücksichtigen, soweit die Vorschriften eines Freistellungstatbestandes nicht explizit auf eine entsprechende Regelung verweisen.

Prüfung des KMU-Status

Weiter hatte das EuG die Überprüfungspflichten der Kommission hinsichtlich des KMU-Status eines Beihilfeempfängers zu untersuchen.

Kerkosand behauptete, die Kommission habe sich zu Unrecht auf die Prüfung des KMU-Status durch den Mitgliedstaat verlassen. Sie hätte vielmehr selbst untersuchen müssen, ob die KMU-Kriterien nach Anhang I der AGVO (weniger als 250 Mitarbeiter, Jahresumsatz von höchstens 50 Mio. Euro oder eine Jahresbilanzsumme von höchstens 43 Mio. Euro) vorlagen. Entsprechende Hinweise, die gegen das Vorliegen des KMU-Status von NAJPI sprachen, hatte die Klägerin bereits im Verwaltungsverfahren vorgetragen, diese hatte die Kommission aber nicht berücksichtigt.

Berechnungszeitpunkt für die Feststellung des KMU-Status und insbesondere die Prüfung, welche Gesellschaften als verbundene Unternehmen bzw. Partnerunternehmen bei der Bestimmung der Mitarbeiterzahlen zu berücksichtigen sind, ist der letzte genehmigte Jahresabschluss. Stellt ein Unternehmen dabei fest, dass es an diesem Stichtag die Schwellenwerte für die Mitarbeiterzahl oder die Bilanzsumme und/oder die Umsatzschwelle überschreitet, verliert es seinen KMU-Status erst dann, wenn es in zwei aufeinanderfolgenden Geschäftsjahren zu einer Überschreitung kommt.

Vor dem Hintergrund eines Gesellschafterwechsels im laufenden Jahr war aus Sicht des Gerichts dem Beschluss der Kommission nicht zu entnehmen, auf welchen Jahresabschluss sie bei der Bestimmung der KMU-Kriterien abgestellt hat. Das EuG kam zu dem Ergebnis, dass die Kommission die für diese Frage relevanten Umstände unzureichend ermittelt und geprüft habe und unterstrich, dass sich die Kommission nicht ohne weiteres auf die durch die Mitgliedstaaten übermittelten Informationen verlassen durfte. Das Gericht stellt außerdem klar, dass die Kommission zum einen verpflichtet ist, den konkreten Jahresabschluss zu bestimmen, auf dessen Grundlage der KMU-Status untersucht wird. Zum anderen reicht es in einer solchen Konstellation nicht aus, nur die Daten der Gesellschaft, die in dem laufenden Kalenderjahr die Kontrolle über den Beihilfenempfänger übernommen hat, zu untersuchen. Vielmehr müssen auch die Daten der bisherigen Gesellschafter berücksichtigt werden, um die KMU-Status zu bestimmen. Aufgabe der Kommission ist es dabei, die Daten der Unternehmen zu herauszuarbeiten, auf deren Grundlage der KMU-Status eines Unternehmens zu bestimmen ist und dabei zu präzisieren, welche Gesellschafter und Gesellschaften zu berücksichtigen sind.

*Diesen Beitrag schrieb Anna Lazarova während ihrer Tätigkeit bei MWP.

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