Deutsche Post: Die „Ergänzungsentscheidung“ im kalten Licht des allgemeinen Verwaltungsverfahrensrechts

Kann die Kommission ein abgeschlossenes förmliches Beihilfeprüfverfahren zur „ergänzenden Prüfung“ noch einmal eröffnen, um neu übermittelte Informationen einzubeziehen, ohne die zuvor getroffene Entscheidung wieder aufzuheben?

Das Gericht hat dies in der Rechtssache T-421/07 RENV, Deutsche Post/Kommission vom 18. September verneint und die Entscheidung zum Anlass genommen, Reichweite und Grenzen der Bindung der Kommission an ihre eigenen verfahrensabschließenden Entscheidungen aufzuzeigen.

Im Zuge eines im Jahre 1999 eingeleiteten förmlichen Prüfverfahrens hat die Kommission 2002 entschieden, dass Deutschland der Deutschen Post mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbare staatliche Beihilfe in Höhe von 572 Mio. Euro gewährt habe und deren Rückforderung angeordnet.

2007 hat die Kommission die streitgegenständliche Entscheidung über die „Neu“-Eröffnung des Verfahrens getroffen. Das durch die Eröffnungsentscheidung von 1999 eingeleitete Verfahren werde „ergänzt, um die neu übermittelten Informationen einzubeziehen und zur Vereinbarkeit dieser Mittel mit dem EG-Vertrag abschließend Stellung zu nehmen“.

Die gegen die Ergänzungsentscheidung gerichtete Nichtigkeitsklage der Deutschen Post hat das EuG 2011 als unzulässig abgewiesen. Der Gerichtshof hat das EuG-Urteil 2013 im Rechtsmittelverfahren aufgehoben und die Rechtssache an das EuG zurückverwiesen. Mit seinem Urteil vom 18. September hat das Gericht die Eröffnungsentscheidung kassiert.

Durch die Ergänzungsentscheidung von 2007, so lautet die Kernbegründung des Gerichts, sei das mit der Entscheidung von 2002 vollständig abgeschlossene förmliche Prüfverfahren wieder eröffnet worden, um eine neue Entscheidung zu erlassen, ohne die Entscheidung von 2002 zu widerrufen oder zurückzunehmen. Für diese Vorgehensweise biete das Verfahrensrecht aus Gründen der Rechtssicherheit keinen Raum.

Zunächst begründet das Gericht, warum die Ergänzungsentscheidung keine implizite Aufhebung der 2002er Entscheidung durch Rücknahme oder Widerruf enthält: Insofern habe die Kommission nie beabsichtigt, die Entscheidung von 2002 zu widerrufen oder zurückzunehmen, und außerdem nicht vorgetragen, dass diese Entscheidung auf unrichtige Informationen gestützt gewesen sei.

Sodann prüft das Gericht andere Möglichkeiten der Kommission, ein vollständig abgeschlossenes förmliches Prüfverfahren wiederzueröffnen – und verneint dies:

Zwar sei eine solche Wiedereröffnung durch die Verordnung Nr. 659/1999 nicht ausdrücklich verboten. Sie liefe jedoch dem Grundsatz der Rechtssicherheit sowie dem Sinn und Zweck dieser Verordnung zuwider, aus deren drittem Erwägungsgrund hervorgeht, dass das Erfordernis, die Rechtssicherheit zu erhöhen, einer der Gründe für ihren Erlass war, und nach deren neuntem Erwägungsgrund das förmliche Prüfverfahren durch eine „abschließende“ Entscheidung beendet wird.

Zum einen bedeute eine solche Wiedereröffnung nämlich, dass zwei miteinander unvereinbare Entscheidungen nebeneinander rechtlichen Bestand hätten. Zum anderen könne die Kommission, wenn ihr die Möglichkeit eingeräumt würde, ein abgeschlossenes förmliches Prüfverfahren wiederzueröffnen und eine neue Entscheidung zu treffen, ohne die Entscheidung über den Abschluss des Verfahrens vorher zu widerrufen oder zurückzunehmen, diese Entscheidung jederzeit rückgängig machen, wodurch den von dem abgeschlossenen Prüfverfahren betroffenen Parteien die Möglichkeit genommen würde, auch nur die mindeste Gewissheit über ihre rechtliche Situation zu erhalten.

  • Mit seinem Urteil vom 18. September hat das Gericht die Kommission zur Einhaltung allgemeiner verwaltungsverfahrensrechtlicher Prinzipien im Beihilfeprüfverfahren ermahnt und die Rechtssicherheit für die Mitgliedstaaten und insbesondere die Beihilfeempfänger gestärkt.
  • Zugleich zeigen sich die Bemühungen des Gerichtes um Wahrung der Formstrenge des Beihilfeverfahrens: Für die von der Kommission bemühte Figur der „Ergänzungsentscheidung“ gibt es mit Blick auf die Erfordernisse der Rechtssicherheit keine verfahrensrechtliche Grundlage. Die Kommission kann daher nur wählen zwischen Verfahrenserweiterung vor Entscheidung und Aufhebung der Entscheidung durch Widerruf oder Rücknahme.
  • Praktikabilitätserwägungen, die die Kommission im Verfahren ins Feld führte, hat das Gericht für ein Zurückstehen der Erfordernisse der Rechtssicherheit nicht als ausreichend erachtet: Die Kommission kann daher die Eröffnung eines neuen förmlichen Prüfverfahrens nicht mit der Notwendigkeit begründen ein früher eingeleitetes und durch Entscheidung abgeschlossenes Verfahren zu ergänzen um neu übermittelten Informationen einbeziehen zu können. Ob hier die Voraussetzungen einer Aufhebung gegen sein könnten, dürfte bezweifelt werden. Hier sei an § 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG hingewiesen, nachdem die Behörde zwar einen Verwaltungsakt widerrufen darf, wenn die Behörde auf Grund nachträglich eingetretener Tatsachen berechtigt wäre, den VA nicht zu erlassen. Das bloße Bekanntwerden von Umständen, die bereits vor Erlass des VA vorlagen, aber nicht berücksichtigt wurden, genügt hingegen nicht.

Für die Kommission bedeutet dieses Urteil einen weiteren Rückschlag bei der von ihr bereits Mitte der 90er begonnenen beihilferechtlichen Generalprüfung des deutschen Briefzustellerunternehmens. Das Unternehmen hatte sich bereits erfolgreich gegen die erste Entscheidung der EU-Kommission von 2002 gewehrt. Die Deutsche Post erhielt nach eigenen Angaben 2008 den gesamten Betrag (572 Mio. Euro) verzinst, somit rund eine Milliarde Euro, zurück. Für die Deutsche Post bedeutet das vorliegende Urteil dagegen einen weiteren Etappensieg in einer lange währenden gerichtlichen Auseinandersetzung mit der Kommission. So sind momentan noch weitere Klagen der Deutschen Post gegen die Kommission beim Gericht anhängig, die jedoch bis zum Abschluss des vorliegenden Verfahrens ausgesetzt wurden. In jenen Verfahren geht es um Beihilfen für Beamtenpensionen, die auch Gegenstand des Urteils des EuGH vom 06.05.2015 (C-674/13 „Kommission/Deutschland“) waren, vgl. hierzu den Blogbetrag vom 16.06.2015.

*Diesen Beitrag schrieb Dr. Jan Wolters während seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt bei MWP.

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