Anreizeffekt ist nicht gleich Anreizeffekt

Aus dem Urteil in der Rechtssache „Eesti Pagar“ haben wir gelernt, dass der Anreizeffekt nach Art. 6 AGVO als formelles Kriterium für die Freistellung einer Beihilfe ernst zu nehmen ist.

Bereits am 12. Oktober 2023 hatte sich nun der EuGH in der Rechtssache C-11/22 Est Wind Power erneut mit der Frage des Anreizeffekts zu befassen. Aus diesem Urteil wird deutlich, dass den Beihilfengeber bei der Überprüfung des Anreizeffekts je nach Rechtsgrundlage für die Gewährung einer Beihilfe eine unterschiedliche Prüftiefe trifft und damit Anreizeffekt im Beihilfenrecht nicht gleich Anreizeffekt ist.

Prüfung des Anreizeffekts auf Grundlage der AGVO

Art. 3 AGVO regelt, dass Beihilfen als mit dem Binnenmarkt vereinbar und von der Anmeldepflicht nach Art. 108 Abs. 3 AGVO freigestellt sind, sofern sie die Voraussetzungen des Kapitels I und die für die betreffende Gruppe von Beihilfen geltenden Voraussetzung des Kapitels III erfüllen. Vor diesem Hintergrund ist u.a. auch das Vorliegen des in Kapitel I unter Art. 6 AGVO geregelten Anreizeffekts vor Gewährung der Beihilfen auf Grundlage der AGVO vom Beihilfengeber zu prüfen. Anderenfalls gilt die Beihilfe nicht als freigestellt und es besteht das Risiko, eine rechtswidrige Beihilfe zu gewähren. Durch die Beachtung des Anreizeffekts sollen beihilferechtliche Mitnahmeeffekte vermieden werden.

Regelmäßig gilt der Anreizeffekt nach Art. 6 Abs. 1 AGVO als erfüllt, wenn der Beihilfenempfänger vor „Beginn der Arbeiten“ einen schriftlichen Antrag auf Förderung gestellt hat. Unter „Beginn der Arbeiten“ ist gem. Art. 2 Ziff. 23 der AGVO entweder der Beginn der Bauarbeiten für die zu fördernde Investition oder die erste rechtsverbindliche Verpflichtung zur Bestellung von Ausrüstungen oder anderen Verpflichtungen zu verstehen, die das Investitionsvorhaben unumkehrbar machen. Die Einholung von Genehmigungen und die Erstellung vorläufiger Durchführbarkeitsstudien gelten dabei nicht als Beginn der Arbeiten.

Nach dem Urteil des EuGH in der Rechtssache Esti Pagar erfordert die Prüfung des Anreizeffekts durch den Beihilfengeber nicht die Vornahme „komplexer wirtschaftlicher Beurteilungen im Einzelfall“. Eine solche Anforderung stehe nach Ansicht des Gerichtshofs nicht im Einklang mit dem grundsätzlichen Ansatz, durch die Anwendung der Freistellungstatbestände die „Verwaltungsabläufe zu vereinfachen und die Transparenz und Rechtssicherheit zu erhöhen“ (Rn. 61 und 62 des o.g. Urteils). Daher ist davon auszugehen, dass die nationalen Behörden nicht das Vorliegen eines tatsächlichen Anreizeffekts zu untersuchen haben, sondern bei Vorliegen der in Art. 6 AGVO genannten Voraussetzungen – Antragstellung vor Beginn der Arbeiten – davon ausgehen dürfen, dass der Beihilfe ein Anreizeffekt zukommt. Auch wenn sich das konkrete Urteil in der Rechtssache Eesti Pagar auf die Gruppenfreistellungsverordnung VO 800/2008 bezog, ist dieser Ansatz auch auf die aktuelle AGVO übertragbar.

Urteil des EuGH in der Rs. C-11/22 Est Wind Power

In diesem Urteil hatte der Gerichtshof in einem Vorabentscheidungsverfahren über die Frage zu entscheiden, wie der Begriff „Beginn der Arbeiten“ in Rn. 19 Abs. 44 der Leitlinien für staatliche Umweltschutz- und Energiebeihilfen 2014-2020 (Leitlinien von 2014) auszulegen und in welcher Tiefe diese Voraussetzung zu prüfen ist. In den Umweltschutzleitlinien 2014 entspricht die Definition des Begriffs „Beginn der Arbeiten“ in Rn. 19 Abs. 44 wortgleich der o.g. Definition unter Art. 2 Rn. 23 AGVO.

Auf Grundlage dieser Leitlinien hatte die Kommission mit Beschluss C(2017)8456 vom 6. Dezember 2017 eine estnische Beihilferegelung für erneuerbare Energiequellen und effiziente KWK-Anlagen genehmigt. Dort hatte die Kommission in den Erwägungsgründen 42 bis 44 weiter konkretisiert, dass Erzeuger von Strom aus erneuerbaren Energien und effizienten KWK-Anlagen als antragsberechtige „bestehende Erzeuger“ angesehen werden, wenn mit den Arbeiten begonnen worden war und sich das Vorhaben am 1. Januar 2017 in einem solchen Entwicklungsstadium befand, dass mit hoher Wahrscheinlich von dessen Fertigstellung ausgegangen werden konnte.

Est Wind Power (EWP) hatte auf Grundlage des Estnischen Strommarktgesetzes eine Förderung bei der zuständigen Stelle für den Bau eines Windparks beantragt. Letztere hatte die Förderung jedoch mit dem Hinweis abgelehnt, EWP könne nicht als „bestehender Erzeuger“ eingestuft werden. Eine für das Vorhaben erforderliche Baugenehmigung war von der zuständigen Gemeindeverwaltung abgelehnt worden, nachdem das Verteidigungsministerium zuvor eine erforderliche Zustimmung zum Vorhaben abgelehnt hatte. Gegen diese ablehnenden Entscheidungen erhob EWP Klage vor dem Verwaltungsgericht Tallin.

Unabhängig davon vertrat EWP die Ansicht, sie habe mit den Arbeiten für dieses Vorhaben begonnen, da sie bereits Windmessmasten und einen Anschlusspunkt des Windparks an das Umspannwerk gebaut habe. Die bescheidende Stelle ging indes davon aus, dass die EWP durch diese Maßnahmen nicht mit den Arbeiten begonnen habe. Es handele sich bei diesen Arbeiten nicht um „unumkehrbare Maßnahmen“, die für eine hohe Wahrscheinlichkeit der Fertigstellung des Projekts sprächen. Vor diesem Hintergrund stufte sie die EWP nicht als „bestehenden Erzeuger“ iSd. des Kommissionsbeschlusses ein und lehnte deren Antrag ab. EWP erhob Klage gegen diesen Bescheid. In dem Verfahren vor dem nationalen Gericht stritten die Parteien insbesondere über den Begriff des „unumkehrbaren Investitionsvorhabens“ und in diesem Zusammenhang um die Frage, inwieweit für eine diesbezügliche Feststellung eine wirtschaftliche Analyse insbesondere der entstandenen Kosten erforderlich sei oder nicht.

Mit dieser Frage hatte sich auch der EuGH im Rahmen eines Vorlageverfahrens durch das mit diesem Rechtsstreit befasste Verwaltungsgericht Tallin zu befassen.

Der EuGH macht in seinem Urteil zunächst deutlich, dass nur eine Investition, die ein Vorhaben in einen unumkehrbaren Zustand versetze, das mit hoher Wahrscheinlichkeit fertiggestellt werde, als „Beginn der Arbeiten“ anzusehen ist. Der Gerichtshof nimmt dabei Bezug auf die Anträge des Generalanwalts und ergänzt, dass eine solche Schwelle nur erreicht werde, wenn die Vorarbeiten abgeschlossen und die eingegangenen Verpflichtungen „nach Art und Kosten“ im Verhältnis zum Gesamtumfang des Vorhabens hinreichend bedeutsam waren. Der Bau von Windmessmasten und Stromanschlüssen erfüllt nach Ansicht des EuGH diese Voraussetzungen nicht. Erforderlich wäre vielmehr der Beginn der Arbeiten zur Errichtung der Windanlagen, die den bedeutenderen Teil des Vorhabens umfassen dürften.

Im Hinblick auf die Frage, in welcher Tiefe die mitgliedstaatlichen Behörden den „Beginn der Arbeiten“ zu prüfen haben, führt der EuGH wie folgt aus: Den Erwägungsgründen 42 bis 44 des Kommissionsbeschlusses ist zu entnehmen, dass die nationalen Behörden im Kontext dieser Kommissionsgenehmigung verpflichtet sind, eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, ob sich das entsprechende Vorhaben zum Stichtag am 1. Januar 2017 in einem Entwicklungsstadium befand, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit fertiggestellt werde. Vor diesem Hintergrund reiche eine rein formale Betrachtung des Beginns der Arbeiten hier nicht aus. Anders als im Anwendungsbereich von Art. 6 AGVO wurde von der Kommission in ihrer Genehmigung der Beihilferegelung der Anreizeffekt festgestellt, so dass sich die der zuständigen Behörde zustehende Beurteilung darauf zu beziehen habe, ob ein schutzwürdiges Vertrauen des Vorhabenträgers auf die Gewährung einer Beihilfe auf Grundlage dieser Beihilferegelung besteht. Der Gerichtshof sieht daher hier – anders als im Anwendungsbereich der AGVO – eine über eine rein tatsächliche oder formale Prüfung hinausgehende Verpflichtung der nationalen Stellen, den Anreizeffekt zu prüfen, die im Einzelfall eine wirtschaftliche Analyse des Entwicklungsstadiums des betreffenden Investitionsvorhabens und der Wahrscheinlichkeit der Fertigstellung umfasst.

Erforderlich sei dafür außerdem, dass der Vorhabenträger über einen Rechtsanspruch auf Nutzung der für die Vorhaben erforderlichen Grundstücke verfüge. Dieser setze auch das Vorliegen der dafür nach nationalem Recht notwendigen staatlichen Genehmigungen voraus. Daher sei das Vorliegen der „endgültigen staatlichen Genehmigungen“ erforderlich, da nur diese die Durchführung des Bauvorhabens ermöglichen. Ein diesbezüglich anhängiger Rechtsstreit über die Erteilung einer Genehmigung, der die Fortsetzung des Bauvorhabens behindere, sei bei der Beurteilung des Entwicklungsstadiums des Bauvorhabens nicht zu berücksichtigen.

Fazit

Wie das Urteil zeigt, ist die Annahme eines Anreizeffekts nicht in jedem Fall mit der rein formalen und tatsächlichen Prüfung, ob die Antragstellung vor Beginn der Arbeiten erfolgte, getan. Vielmehr kann aufgrund besonderer Vorgaben der beihilferechtlichen Grundlage sogar eine tiefergehende wirtschaftliche Analyse erforderlich werden, um festzustellen, dass ein unumkehrbares Investitionsvorhaben vorliegt.

Ein Rückschluss für die Prüfungstiefe des Anreizeffekts im Bereich von Art. 6 AGVO erscheint jedoch aufgrund der besonderen Umstände des dem Urteil zugrundeliegenden Sachverhalts im Anwendungsbereich der Umweltschutzleitlinien nicht gegeben.

*Diesen Beitrag schrieb Tim Schotters während seiner Zeit als Referendar bei Müller-Wrede Rechtsanwälte gemeinsam mit Gabriele Quardt

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