Lehrstunde des EuG zur Marktüblichkeit: das arithmetische Mittel reicht nicht aus

In einem Urteil vom 13. Juli 2022 (T-150/20) musste sich die dritte Kammer des EuG mit der beihilferechtlichen Beurteilung von Pachtverträgen über landwirtschaftliche Flächen im staatlichen Eigentum auseinandersetzen.

In diesem Zusammenhang traf das EuG einige grundlegende Aussagen zur Beurteilung der Marktüblichkeit von den für eine solche Pacht zu entrichtenden Pachtzahlungen. Die Ausführungen des EuG dürften vor allem für kommunale Verpächter bzw. kommunale Eigentümer von Flächen von großem Interesse sein.

Der dem Urteil zugrunde liegende Sachverhalt

Im Jahr 2000 schloss die Republik Estland mit der Klägerin, der Tartu Agro AS, im Anschluss an ein nicht-offenes Ausschreibungsverfahren einen Pachtvertrag über landwirtschaftliche Flächen auf dem Gebiet der Gemeinde Tähtvere. Die Flächen befinden sich im Eigentum der Republik Estland. Der Pachtvertrag wurde über 25 Jahre geschlossen und sah eine Änderungsklausel vor, auf deren Grundlage die Pacht zum 01. Januar 2005, zum 01. Januar 2007 und letztmals zum 01. Januar 2009 erhöht wurde. Der Pachtvertrag sah außerdem zusätzliche Verpflichtungen der Klägerin vor, Investitionen in Entwässerungssysteme und in die Erhaltung des Bodens und der Verbesserung der Bodenqualität zu tätigen.

Der Kommissionsbeschluss

Im Jahr 2014 ging bei der Kommission eine Beschwerde ein, dass die Verpachtung an die Klägerin eine rechtswidrige staatliche Beihilfe beinhalte. Die Kommission leitete die Beschwerde an die estnischen Behörden weiter und bat um weitere Informationen.

Mit Beschluss vom 27. Februar 2017 eröffnete die Kommission das förmliche Prüfverfahren nach Art. 108 Abs. 2 AEUV. Sie könne nicht ausschließen, dass die Verpachtung der Klägerin einen Vorteil in Form einer unter dem Marktpreis liegenden Pacht gewähre. Auch die übrigen Voraussetzungen des Art. 107 Abs. 1 AEUV schienen nach Ansicht der Kommission erfüllt zu sein.

Nachdem die estnischen Behörden ebenso wie der Beschwerdeführer und die Klägerin mehrere Stellungnahmen und Informationen einreichten, erließ die Kommission am 24. Januar 2020 einen Beschluss, in dem sie feststellte, dass die Verpachtung der staatseigenen Flächen über den gesamten Zeitraum ab dem Jahr 2000 alle Voraussetzungen des Art. 107 Abs. 1 AEUV erfülle und eine staatliche Beihilfe darstelle.

Zur Begründung führte die Kommission an, dass die von der Klägerin gezahlte Pacht im gesamten Zeitraum unter dem Marktpreis gelegen habe. Der Klägerin sei ein wirtschaftlicher Vorteil in der Differenz zwischen der gezahlten Pacht und einer marktüblichen Pacht gewährt worden.

Die Kommission stützte sich hierbei auf ein Sachverständigengutachten (Bericht Uus Ma), das von den estnischen Behörden vorgelegt wurde. Der Bericht führte Preisspannen für die Pacht vergleichbarer Flächen in vergleichbarer Lage auf. Hierbei betrug der Höchstbetrag der Preisspanne teils mehr als das Doppelte des Mindestbetrages. Die Kommission bildete das arithmetische Mittel der in dem Bericht aufgeführten Preisspannen und stellte fest, dass die von der Klägerin gezahlte Pacht unter diesem Wert lag. Weiter stützte sich die Kommission auf Daten des estnischen statistischen Amtes, die den Merkmalen der jeweiligen Regionen und Grundstücken nicht Rechnung trugen, sondern verpachtete Flächen in ganz Estland betrafen.

Im Übrigen war die Kommission der Ansicht, dass verschiedene von der Klägerin im Pachtzeitraum getätigte Investitionen zur Verbesserung und Erhaltung des Bodens nicht bei der Bestimmung der marktüblichen Pacht berücksichtigt werden können. Bei derartigen Investitionen handele es sich um Betriebskosten, die im Interesse des Landwirts anfallen. Nur Investitionen, die den estnischen Staat von bestimmten ihm obliegenden Instandhaltungskosten (hier Investitionen in das Entwässerungssystem) befreit haben, hat die Kommission in diesem Zusammenhang berücksichtigt. Da die konkret von der Klägerin getätigten Investitionen aber über die gesetzlichen Anforderungen hinaus gingen und auch der Klägerin zugutekamen, berücksichtigte die Kommission nur die Hälfte dieser Kosten.

Insgesamt merkte die Kommission an, dass die Beurteilung des Vorteils eine komplexe wirtschaftliche Bewertung darstelle, bei der sie einen Ermessensspielraum hinsichtlich der Bewertungsmethode habe.

Das Urteil des EuG

Das EuG hob den Beschluss der Kommission auf. In seinem Urteil trifft es hierbei grundlegende Aussagen zur Marktüblichkeit von Pachtzahlungen bei Pachtverträgen von landwirtschaftlichen Flächen im staatlichen Eigentum und zur Berücksichtigungsfähigkeit zusätzlicher vertraglicher Verpflichtungen bei der Bestimmung dieser Marktüblichkeit.

Die Marktüblichkeit der Pacht

Das EuG leitet seine Ausführungen damit ein, dass die Kommission hinsichtlich der Beurteilung des Vorteils zwar über einen Ermessensspielraum verfüge. Nichtsdestotrotz haben die Gerichte aber neben der sachlichen Richtigkeit, Zuverlässigkeit und Kohärenz der angeführten Beweise auch zu überprüfen, ob diese Beweise alle relevanten Daten beinhalten, die bei der Beurteilung einer komplexen Situation heranzuziehen sind und ob sie die aus ihnen gezogenen Schlüsse stützen. Darüber hinaus hat die Kommission sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls zu untersuchen und ihre Entscheidung hinreichend zu begründen (EuGH u.a. in C-525/04 P, Rn. 56 – 58).

Auf dieser Grundlage kam das EuG dann zu dem Schluss, dass der von der Kommission vorgenommene Vergleich der von der Klägerin gezahlten Pacht mit den Durchschnittsbeträgen aus dem Bericht Uus Ma und den Daten des statistischen Amtes zu allgemein und unzureichend qualifiziert war. Insbesondere lässt die Methode der Kommission zwangsläufig zu tolerierende Schwankungsbreiten außer Betracht, wodurch sie die marktübliche Pacht nicht plausibel und kohärent belegt:

Die Kommission hat für ihre Auffassung, dass das arithmetische Mittel aus den in den Preisspannen enthaltenen Beträgen als Grundlage für den Marktpreis heranzuziehen ist, keine nähere Begründung angegeben. Die Tatsache, dass der Bericht Uus Maa den marktüblichen Preis der Pacht in Preisspannen ausgedrückt hat, impliziert aber zwangsläufig, dass auch die Mindestbeträge dieser Preisspannen einer Pacht entsprechen, die mit dem Marktpreis vereinbar ist. Es ist üblich, Schätzungen in Preisklassen als Grundlage für die Bewertung der Marktüblichkeit von Preisen anzuführen. Kann die Kommission nicht spezifisch darlegen und rechtfertigen, warum sie eine abweichende Bewertungsmethode verwendet, ist davon auszugehen, dass die Mindestbeträge der Preisspannen maßgeblich sind und den Marktpreis abbilden. Vorliegend hat sie aber gar keine Begründung angegeben, warum sie als Grundlage das arithmetische Mittel der Preisspannen gewählt hat. Das Gericht merkt noch an, dass eine solche Methode vielmehr zu ungenauen Ergebnissen und einer erheblichen Überschätzung des Marktpreises führt.

Des Weiteren hat die Kommission aber auch den falschen Bezugszeitraum bzw. -zeitpunkt für die Beurteilung der Marktüblichkeit der Pacht gewählt. Zum Zeitpunkt des Abschlusses des Pachtvertrages war es ausweislich des Berichtes Uus Maa üblich, allgemein formulierte Verträge ohne Klauseln zur einseitigen Pachterhöhung zu schließen. Entsprechend hätte im Zeitpunkt des Abschlusses des Pachtvertrages ein privater Wirtschaftsteilnehmer unter normalen Wettbewerbsbedingungen in einer vergleichbaren Situation nicht notwendigerweise eine vertragliche Bestimmung vorgesehen, die eine (jährliche) einseitige Erhöhung der Pacht ermöglicht. Wenn die Kommission dann nicht nachweist, dass der Staat die Möglichkeit hatte, die Pacht jedes Jahr zu erhöhen, um sie an den Marktpreis anzupassen, kann sie nicht die Pacht für den gesamten Zeitraum vergleichen. Vielmehr hätte sie prüfen müssen, ob die Höhe der Pacht bei Abschluss des Pachtvertrages und im Zeitpunkt der Vertragsänderungen in 2005, 2007 und 2009 dem Marktpreis entsprach.

Weiter hat die Kommission nicht den genauen Anteil an Ackerflächen auf dem gegenständlichen Grundstück berechnet, obwohl es ihr nach den ihr vorliegenden Unterlagen möglich gewesen wäre. In der Folge zog sie Grundstücke zum Vergleich heran, die über eine Ackerfläche von 95 bis 97 % verfügten, während das gegenständliche Grundstück nur über eine Ackerfläche von 83 % verfügte. Da der Preis für Ackerland in der Regel höher war als der Preis für Dauergrünland, überschätzte sie auch auf dieser Grundlage den Marktpreis für Grundstücke, die mit dem streitigen Grundstück vergleichbar wären.

Soweit sich die Kommission insbesondere hinsichtlich des Zeitraums 2015 bis 2017 noch auf Daten des estnischen statistischen Amtes stützte, handelte es sich nach Ansicht des EuG auch hierbei um eine ungeeignete Methode. So handelt es sich bei diesen Daten um Durchschnittspreise für die Pacht landwirtschaftlicher Flächen in ganz Estland, ungeachtet ihrer Merkmale und ihrer Lage. Außerdem geben die Daten keine Preisspannen an, weshalb es nicht möglich ist, den niedrigsten Marktpreis zu kennen.

Die Berücksichtigung zusätzlicher vertraglicher Verpflichtungen

Auch die überwiegende Nichtberücksichtigung von im Pachtvertrag vorgesehenen und von der Klägerin durchgeführten Investitionen zur Erhaltung des Bodens und der Verbesserung der Bodenqualität ist nach Ansicht des EuG rechtsfehlerhaft.

Die Kommission hatte ihr Ergebnis schon nicht auf Sachverständigenkenntnis gestützt. Sie hat auf die von den estnischen Behörden vorgelegten Berichte nicht Bezug genommen. Sie hat den Wert der von der Klägerin getätigten Investitionen und ihre etwaige Berücksichtigung in der Gesamtmiete deshalb nicht anhand der ihr vorliegenden einschlägigen Informationen geprüft. Stattdessen hat sie pauschal ohne eine nachvollziehbare und überprüfbare Methode lediglich die Hälfte der Investitionen in Entwässerungssysteme berücksichtigt und sich hierbei ohne konkrete Berechnungen darauf gestützt, dass die Investitionen auch der Klägerin zugutegekommen seien. Ob auch ein privater Wirtschaftsbeteiligter, der unter normalen Wettbewerbsbedingungen handelt und sich in einer vergleichbaren Situation wie die estnischen Behörden befindet, die in Rede stehenden vertraglichen Verpflichtungen auferlegt hätte, hat die Kommission gar nicht geprüft.

Das EuG führt im Gegensatz zur Ansicht der Kommission aus, dass Investitionen, die im Pachtvertrag oder gesetzlich auferlegt sind, auch im Interesse des Verpächters liegen dürften, wenn sie über die vertraglichen oder gesetzlichen Mindestanforderungen hinausgehen. Denn ein privater Wirtschaftsbeteiligter kann sich an längerfristigen Rentabilitätsaussichten orientieren. Entsprechend ergibt sich aus dem Bericht Uus Maa, dass es zum Zeitpunkt des Abschlusses des Pachtvertrags üblich war, Grundstücke gar unentgeltlich zur Verfügung zu stellen, um zu verhindern, dass die Grundstücke brachliegen. Auch der Pachtvertrag zielte darauf ab, die zweckmäßige Nutzung des Grundstücks aufrecht zu erhalten. Es war deshalb nicht auszuschließen, dass auch ein privatwirtschaftlicher Verpächter zusätzliche Verpflichtungen vorgesehen hätte, um nicht selbst die notwendigen Investitionen zur langfristigen Erhaltung und Wertsteigerung der Flächen tätigen zu müssen.

Ohne zu überprüfen, ob die von den estnischen Behörden erhobene Pacht unter diesen Umständen dem Verhalten eines privaten Wirtschaftsteilnehmers entsprach, konnte die Kommission aber nicht feststellen, in welcher Höhe die von der Klägerin getätigten Investitionen als integraler Bestandteil der Pachteinnahmen der estnischen Behörden hätten berücksichtigt werden müssen.

Im Ergebnis ist die Entscheidung der Kommission somit sowohl bei der allgemeinen Bestimmung der marktüblichen Pacht als auch bei der Analyse der Berücksichtigung zusätzlicher Verpflichtungen des Pachtvertrages mit offensichtlichen Beurteilungsfehlern und Verstößen gegen die Pflicht zur sorgfältigen und unparteiischen Untersuchung aller relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls behaftet.

Anmerkungen

In dem Urteil diktiert das EuG der Kommission relativ deutlich, welche Sorgfalts- und Begründungspflichten der Kommission auch dann obliegen, wenn ihr bei der Beurteilung des Vorliegens eines wirtschaftlichen Vorteils ein Ermessen hinsichtlich der geeigneten Beweise und Analysemethoden im Rahmen eines Benchmarkings zusteht. Diese Grundsätze sind dabei auch über ein Benchmarking für die Beurteilung einer marktgerechten Pacht hinaus von Bedeutung.

Für die Praxis interessant sind vor allem zwei Kernaussagen, die das EuG im Zusammenhang mit der Bestimmung der Marktüblichkeit von Pachtzahlungen für staatseigene (landwirtschaftliche) Flächen trifft:

Erstens ist grundsätzlich die marktübliche Pacht anhand von Preisspannen für die Pacht vergleichbarer Flächen zu beurteilen. Bereits der Mindestpreis innerhalb dieser Preisspanne stellt dann eine marktübliche Pacht für die Fläche dar.

Die Kommission hat  sich vermutlich bei ihrer Prüfung unter Heranziehung des arithmetischen Mittels aus den Preisspannen von Rn. 100 der Bekanntmachung zum Beihilfenbegriff leiten lassen. Dort wird ausgeführt: „Beim Benchmarking wird häufig nicht ein „genauer“ Referenzwert, sondern eine Spanne möglicher Werte ermittelt, indem vergleichbare Transaktionen geprüft werden. Wenn das Ziel der Bewertung darin besteht zu prüfen, ob die staatliche Maßnahme den Marktbedingungen entspricht, empfiehlt es sich in der Regel, Maße für die zentrale Tendenz wie den Durchschnitt oder den Median vergleichbarer Transaktionen in Erwägung zu ziehen.“

Jedenfalls die dritte Kammer des EuG gibt in ihrem Urteil einer Bestimmung des marktüblichen Preises anhand von Preisspannen den Vorzug. Allerdings sind die Besonderheiten des vom EuG zu entscheidenden Falls zu berücksichtigen: Das EuG erklärte den Kommissionsbeschluss aufgrund eines offensichtlichen Beurteilungsfehlers der Kommission für nichtig. Der Beurteilungsfehler beruhte u.a. darauf, dass die Kommission ihrer Prüfung ein Sachverständigengutachten zugrunde gelegt hat, das den Marktpreis in Preisspannen angab und dann nicht begründet hat, warum sie eine abweichende Bewertungsmethode gewählt hat. Das Urteil steht der Wahl einer anderen Bewertungsmethode im Grundsatz aber nicht entgegen. So wird in Rn. 52 ausgeführt, dass eine Abweichung von der Schätzung in Preisklassen einer spezifischen Rechtfertigung bedarf. An einer Rechtfertigung oder Begründung der Kommission für ihre Wahl der Bewertungsmethode fehlte es vorliegend aber vollends. Oftmals dürfte es angezeigt und in der Sachverständigenpraxis üblich sein, insbesondere bei großen Preisspannen außergewöhnlich niedrige und/oder außergewöhnlich hohe Preise („Mondpreise“) bei der Bestimmung des Marktpreises außer Acht zu lassen.

Zweitens können, soweit der Pachtvertrag dem Pächter zusätzliche Investitionen auferlegt, diese Investitionen bei der Beurteilung, ob die vereinbarte Pachtzahlung dem Marktpreis entspricht, als integraler Bestandteil der Pachteinnahmen mit einbezogen werden, soweit ein privater Wirtschaftsbeteiligter in der Situation des Verpächters solche Investitionen ebenfalls mit einbeziehen würde, um die Bodenqualität der Fläche zu erhalten und zu verbessern und den Wert der Fläche langfristig zu steigern.

*Diesen Beitrag schrieb Christopher Hanke während seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt bei MWP.

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