EuGH zur Kontrolle durch öffentliche Stellen im Sinne der KMU-Definition

Ist ein Unternehmen bereits nicht als KMU einzustufen, weil es unter der Kontrolle eines verbundenen Unternehmens steht, welches wiederum indirekt von öffentlichen Stellen kontrolliert wird?

Diese komplex daherkommende und sinngemäß so vom VG Berlin in einem Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gerichtete Frage gab dem EuGH Anlass, sich in einem Urteil vom 24.09.2020 (C-516/19 – NMI Technologietransfer) umfassend und teils lehrbuchartig mit dem KMU-Begriff auseinanderzusetzen. Im Blickpunkt stand hierbei neben den Merkmalen des Begriffs und seinen Ausnahmen vor allem die Auslegung der Begriffe der „öffentlichen Stelle“ und der „Kontrolle“.

Sachverhalt und Ausgangsverfahren

Am 26.07.2016 beantragte die NMI TT GmbH (im Folgenden „NMI TT“) eine Zuwendung aus einem Programm für die Finanzierung von Forschungs- und Entwicklungsprojekten. Antragsberechtigt sind nach den Vorschriften der das Programm regelnden Leitlinie KMU mit Geschäftsbetrieb in Deutschland.

90 % des Stammkapitals und 88,8 % der Stimmrechte der NMI TT werden vom NMI-Institut, einer rechtsfähigen gemeinnützigen Stiftung bürgerlichen Rechts, gehalten. Zu den Aufgaben der NMI TT gehört vor allem die finanziell gewinnbringende Umsetzung von Forschungsergebnissen, die am NMI-Institut gewonnen werden. Das Stiftungskapital des NMI-Instituts wird wiederum von privaten Gesellschaftern und zu einem Anteil von ca. 6 % von der Stadt Reutlingen gehalten. Sein Kuratorium besteht u.a. aus jeweils ehrenamtlich tätigen zwei Vertretern von Ministerien eines Bundeslandes, dem Oberbürgermeister der Stadt Reutlingen, dem Rektor und drei Professoren einer Universität sowie dem Präsidenten einer Hochschule Reutlingens und dem Geschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Reutlingens. Das Kuratorium verfügt über erhebliche Beratungs- und Entscheidungsbefugnisse über die inhaltliche Planung, die Finanzplanung, die Bestellung, Abberufung und Entlastung des Vorstands und der Satzungsänderung und -auflösung. Sämtliche Mitglieder des Kuratoriums sind Mitglieder der Geschäftsleitung bei NMI TT.

Mit Bescheid vom 28.02.2017 lehnte die Projektträgergesellschaft den Antrag ab. Als Begründung führte sie an, NMI TT sei kein KMU im Sinne des Anhangs I der AGVO (Allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung – Verordnung Nr. 651/2014 AGVO, im Folgenden „Anhang I“). Es sei von einer indirekten Kontrolle durch öffentliche Stellen im Sinne des Art. 3 Abs. 4 des Anhangs I auszugehen. Denn bei NMI TT und dem NMI-Institut handele es sich um verbundene Unternehmen nach Art. 3 Abs. 3 a) des Anhangs I und das Kuratorium des NMI-Instituts bestünde mehrheitlich aus staatlichen Stellen.

Nachdem ein Widerspruchs NMI TTs gegen den Bescheid zurückgewiesen wurde, reicht NMI TT Klage beim VG Berlin mit der Begründung ein, dass die Projektträgergesellschaft die Einflussmöglichkeiten öffentlicher Stellen auf das NMI-Institut falsch beurteilen würde. Die Stiftung richte sich allein am Stifterwillen aus. Das Kuratorium sei ein beratendes Fachgremium, das die Entscheidungen des NMI-Instituts oder von NMI TT nicht beeinflussen könne.

Das VG Berlin setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH eine Reihe von Fragen zur Vorabentscheidung vor, die der EuGH zu der eingangs formulierten Frage zusammenfasste.

Die Ausführungen des EuGH zur KMU-Definition

Der EuGH macht in seinem Urteil zunächst allgemeine Ausführungen zu den Kriterien einer Einstufung eines Unternehmens als KMU, bevor er eine ausführliche Auslegung der Begriffe der „öffentlichen Stelle“ und der „Kontrolle“ vornimmt. Im Rahmen dieser Auslegung trifft der EuGH einige grundlegende Aussagen zur KMU-Definition und zu ihren Ausnahmevorschriften.

Allgemeines

Zunächst wird im Urteil angeführt, dass ein Unternehmen als KMU im Sinne der AGVO eingestuft werden kann, wenn es drei Kriterien erfüllt: Die beiden in Art. 2 des Anhangs I geregelten Kriterien, der Zahl der Beschäftigten und des Jahresumsatzes / der Jahresbilanzsumme und das in Art. 3 geregelte Unabhängigkeitskriterium.

Zum Unabhängigkeitskriterium stellt er EuGH dann heraus, dass dieses dazu dient, sicherzustellen, dass die für KMU vorgesehenen Maßnahmen auch tatsächlich die Unternehmen erreichen, die aufgrund ihrer Größe Nachteilen ausgesetzt sind. Die Maßnahmen sollen aber grade nicht solchen Unternehmen zugutekommen, die als Teil eines größeren Konzerns Zugang zu Mitteln haben, die eigenständigen KMUs nicht zur Verfügung stehen.

In der Folge stellt der EuGH die verschiedenen Regelungen des Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 des Anhangs I vor, nach denen ein Unternehmen als „Partnerunternehmen“ oder „verbundenes Unternehmen“ das Unabhängigkeitskriterium nicht erfüllt, um dann zum für die hier behandelte Entscheidung zentralen Art. 3 Abs. 4 des Anhangs I überzuleiten. Dieser Art. 3 Abs. 4 stellt eine allgemeine Regel zum Ausschluss von der Qualifizierung eines Unternehmens als KMU auf, wenn

mindestens 25 % seines Kapitals oder seiner Stimmrechte – gegebenenfalls indirekt – von einer oder mehreren öffentlichen Stellen einzeln oder gemeinsam gehalten werden, es sei denn, bei diesen öffentlichen Stellen handelt es sich um in Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Buchst. a bis d dieses Anhangs genannte Investoren, die nicht im Sinne von Art. 3 Abs. 3 dieses Anhangs mit diesem Unternehmen verbunden sind.

Im Ausgangsrechtsstreit war unstreitig – und konnte auch vom EuGH zugrunde gelegt werden -, dass es sich bei NMI TT und dem NMI-Institut um verbundene Unternehmen i.S.v. Art. 3 Abs. 3 handelt, da das NMI-Institut die Mehrheit der Stimmrechte bei NMI TT hält. Deshalb konnte der EuGH die Einschränkung des zweiten Halbsatzes außer Acht lassen und einzig und allein prüfen, ob NMI TT im Sinne des Art. 3 Abs. 4 (indirekt) von öffentlichen Stellen kontrolliert wurde.

Zum Begriff „öffentliche Stelle“

Hierbei hatte der EuGH zunächst zu klären, ob Einrichtungen wie Universitäten, Hochschulen oder Industrie- und Handelskammern vom Begriff der „öffentlichen Stelle“ des Art. 3 Abs. 4 des Anhangs I umfasst sind.

Hierbei stellte er zunächst klar, dass Art. 3 Abs. 4 des Anhangs I für seine Auslegung nicht auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist. Begriffe unionsrechtlicher Bestimmungen, die für ihre Auslegung nicht ausdrücklich auf nationales Recht verweisen, sind in der gesamten Union unabhängig von den in den Mitgliedstaaten verwendeten Begriffen als autonomer Begriff des Unionsrechts vom EuGH einheitlich für alle Mitgliedsstaaten auszulegen.

Die Auslegung nimmt der EuGH anhand des Wortlautes, des Kontextes der Vorschrift und des Ziels der Regelung, zu der die Vorschrift gehört, vor.

Als Auslegungsergebnis definiert er den Begriff in einem sehr weit reichenden Verständnis als „alle Einrichtungen oder Behörden der öffentlichen Hand, einschließlich der Gebietskörperschaften und der besonders zur Erfüllung von Bedürfnissen des Allgemeininteresses geschaffenen Stellen, die eine Rechtspersönlichkeit besitzen und überwiegend durch den Staat, durch Gebietskörperschaften oder andere öffentliche Stellen finanziert bzw. direkt oder indirekt von ihnen kontrolliert werden.“

Dieses Auslegungsergebnis beruht auf folgenden Erwägungen:

Innerhalb der Wortlautauslegung versteht der EuGH den Begriff seinem üblichen Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch als sämtliche Einrichtungen, die der öffentlichen Hand zuzuordnen sind, umfassend.

Im Rahmen des Kontextes der Vorschrift bezieht sich der EuGH auf den 13. Erwägungsgrund der KMU-Empfehlung der Kommission vom 06.05.2003 (auf der der Begriff „KMU“ i.S.d. Anhangs I beruht), nach dem der vorgesehene Ausschluss im Interesse der Rechtssicherheit alle verschiedenen staatlichen Stellen eines Mitgliedsstaates umfasst, um willkürliche Unterscheidungen zu vermeiden. Ferner zieht der EuGH die Richtlinie 2006/111 der Kommission heran, in der der Begriff der „öffentlichen Hand“ dahingehend definiert wird, dass er auch regionale, lokale und alle anderen Gebietskörperschaften umfasst.

Das mit Art. 3 Abs. 4 des Anhangs I verfolgte Ziel der Sicherstellung des Unabhängigkeitskriteriums soll wiederum gewährleisten, dass die für die KMU-Förderung bestimmten Mittel nur solchen Unternehmen zugutekommen, die diese Mittel benötigen, um die mit ihrer Größe verbundenen Hindernisse überwinden zu können. Zur öffentlichen Hand gehörende Einrichtungen gleich welcher Art oder Organisation hingegen können aufgrund verschiedener – auch wirtschaftlicher und finanzieller – Mittel einem Unternehmen auch so ermöglichen, diese Hindernisse zu überwinden.

Schließlich stellt der EuGH – auf Vortrag von NMI TT, dass nach S. 19 des „Benutzerleitfadens zur Definition von KMU“ der Kommission Universitäten nicht als „öffentliche Stellen“ angesehen werden können – ausdrücklich klar, dass der Leitfaden für die Kommission keine rechtliche Wirkung hat und für die Kommission nicht bindend ist – und erst recht nicht für den EuGH.

Die Empfehlung von 2003 […] ist die einzig verbindliche Grundlage bei der Bestimmung der Voraussetzung für die Erfüllung der KMU-Kriterien“.

Es ist nunmehr Sache des VG Berlin zu prüfen, ob die genannten Einrichtungen öffentliche Stellen im Sinne dieser Auslegung sind. Hierbei kommt es nach einer weiteren Klarstellung des EuGH ausdrücklich nicht darauf an, dass die auf Vorschlag dieser Einrichtungen berufenen Personen ehrenamtlich für das Unternehmen tätig sind. Entscheidend ist einzig, ob sie in ihrer Eigenschaft als Mitglieder von öffentlichen Stellen berufen werden.

Zum Begriff „Kontrolle“

Schließlich hatte der EuGH zu beurteilen, wann eine solche öffentliche Stelle die „Kontrolle“ über ein Unternehmen im Sinne des Art. 3 Abs. 4 des Anhangs I ausübt. Auch die Auslegung dieses Begriffs hat anhand des Wortlautes, des Kontextes der Vorschrift und des Ziels der Regelung, zu der die Vorschrift gehört, zu erfolgen.

Hierbei stand die Frage im Mittelpunkt, ob lediglich verlangt werden muss, dass öffentliche Stellen mindestens 25 % des Kapitals oder der Stimmrechte des betreffenden Unternehmens halten oder ob darüber hinaus die öffentlichen Stellen die tatsächliche Ausübung der Stimmrechte ihrer Vertreter beeinflussen können müssen bzw. die Vertreter den Interessen der öffentlichen Stellen Rechnung tragen müssen. Dies vor dem Hintergrund, dass im streitigen Fall das überwiegend von Vertretern von nach deutschem Recht staatlichen Stellen besetzte Kuratorium nach dem Vortrag von NMI TT lediglich als beratendes Fachgremium ohne echte Einflussmöglichkeiten zu betrachten sei.

Das Auslegungsergebnis führt den EuGH zu einer sehr formalen Betrachtungsweise des Begriffs der „Kontrolle“ durch öffentliche Stellen:

Eine solche „Kontrolle“ liegt bereits dann vor, „wenn öffentliche Stellen gemeinsam, sei es auch indirekt, gemäß der Satzung des Unternehmens, das die direkte Kontrolle über das betreffende Unternehmen ausübt, mindestens 25 % des Kapitals oder der Stimmrechte des betreffenden Unternehmens halten, ohne dass darüber hinaus zu prüfen wäre, ob diese Stellen in der Lage sind, zu beeinflussen und zu koordinieren, wie ihre Stimmrechte tatsächlich durch ihre Vertreter ausgeübt werden, oder ob diese Vertreter den Interessen der genannten Stellen tatsächlich Rechnung tragen.“

Es kommt also einzig und allein darauf an, ob öffentliche Stellen 25 % des Kapitals oder der Stimmrechte des Unternehmens halten. Dieses Ergebnis beruht auf folgenden Erwägungen des EuGH:

Der Wortlaut des Art. 3 Abs. 4 des Anhangs I knüpft im Einklang mit dem 13. Erwägungsgrund der Empfehlung von 2003 einzig an diese Höhe an, ohne das tatsächliche Verhalten der Stellen oder ihrer Vertreter zu umfassen.

Betrachtet man den Kontext, in dem Art. 3 Abs. 4 des Anhangs I steht, hält der EuGH zunächst fest, dass Art. 3 ausdrücklich verschiedene Regelungen vorsieht, nach denen bei der Beurteilung der Unabhängigkeit eines Unternehmens auf die tatsächliche Einflussnahme abzustellen ist. So stellt Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 2 des Anhangs I eine Vermutung auf, dass in den dort aufgeführten Fällen kein beherrschender Einfluss ausgeübt wird, obwohl es sich nach formaler Betrachtung um ein verbundenes Unternehmen handelt. Umgekehrt sieht Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 4 des Anhangs I Fälle vor, in denen eine wirtschaftliche Einheit anzunehmen ist, obwohl die formalen Anforderungen hieran nicht erfüllt sind.

Da die Definition des KMU-Begriffs wegen ihrer weitreichenden Vorteile für die umfassten Unternehmen eng auszulegen ist und Art. 3 des Anhangs I die aufgeführten Ausnahmen von einer formalen Betrachtungsweise vorsieht, stützt auch die Kontextauslegung nach den Ausführungen des EuGH das Ergebnis, dass es bei Art. 3 Abs. 4 des Anhangs I – der eine solche Ausnahme grade nicht vorsieht – auf eine rein formale Betrachtungsweise ankommt.

Schließlich führt der EuGH als Ziel des Art. 3 Abs. 4 des Anhangs I zum einen die Gewährleistung des Unabhängigkeitskriteriums an. Bestehen zwischen Unternehmen strukturelle Verflechtungen bei Beteiligungen und Stimmrechten, bedeutet dies – unabhängig vom tatsächlichen Verhalten – bereits die Möglichkeit einer geschäftlichen Einflussnahme. Zum anderen sehen der 30. Erwägungsgrund der AGVO und der 13. Erwägungsgrund der Empfehlung von 2003 als Ziel der Vorschrift vor, Transparenz und Verfahrenssicherheit zu erhöhen. Eine rein formale Betrachtungsweise ohne Prüfung des konkreten Verhaltens der beteiligten Stellen oder ihrer Vertreter vereinfacht den zuständigen Behörden nach den Schlussfolgerungen des EuGH auch die Anwendung der in Art. 3 Abs. 4 des Anhangs I vorgesehene Ausschlussregel.

Für den konkreten Fall bedeutet dies, dass das VG Berlin nun zu prüfen hat, ob denjenigen Vertretern des Kuratoriums des NMI-Instituts, die als Vertreter öffentlicher Stellen anzusehen sind, über die Satzung des NMI-Instituts indirekt mehr als 25 % der Stimmrechte bei NMI TT verliehen werden.

Fazit

Eine lehrbuchartige Entscheidung des EuGH, die nicht nur nach umfassenden Ausführungen zum Auslegungsmaßstab klare Definitionen der Begriffe der „öffentlichen Stelle“ und der „Kontrolle“ hervorbringt und sich ausführlich zu Sinn und Zweck des Unabhängigkeitskriteriums äußert, sondern auch allgemeine im Rahmen der KMU-Definition zu beachtende Maßstäbe setzt und bestätigt:

Der Begriff des KMU nach Anhang I ist eng auslegen und der „Benutzerleitfaden zur Definition von KMU“ ist für die Kommission im Gegensatz zur Empfehlung von 2003 nicht verbindlich.

*Diesen Beitrag schrieb Christopher Hanke während seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt bei MWP.

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