Eine spanische Steuerregelung über die Abschreibung des finanziellen Geschäfts- oder Firmenwertes (sog. „goodwill“) stellt eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfe dar.
Mit diesem Ergebnis brachte die große Kammer des EuGH mit Urteilen vom 06. Oktober 2021 mehrere Verfahren zum Abschluss, in denen sich EuG und EuGH über einen Zeitraum von insgesamt zehn Jahren mit dem Tatbestandsmerkmal der Selektivität steuerlicher Maßnahmen zu beschäftigen hatten.
Gemäß der im Jahr 2001 in das spanische Körperschaftsteuergesetz eingeführten streitgegenständlichen Regelung kann im Falle des Erwerbs einer Beteiligung von mindestens 5 % durch ein gebietsansässiges Unternehmen an einem „ausländischen Unternehmen“ der sich hieraus ergebende finanzielle Geschäfts- oder Firmenwert in Form einer Abschreibung von der Bemessungsgrundlage der von dem gebietsansässigen Unternehmen geschuldeten Körperschaftsteuer abgezogen werden, sofern es die Beteiligung mindestens ein Jahr lang ununterbrochen hält (streitgegenständliche Maßnahme). Als „ausländisches Unternehmen“ gilt hierbei ein Unternehmen, das einer Steuer unterliegt, die mit der in Spanien geltenden Steuer vergleichbar ist, und dessen Einnahmen hauptsächlich aus im Ausland durchgeführten unternehmerischen Tätigkeiten stammen.
Nach spanischem Steuerrecht kann ein in Spanien steuerpflichtiges Unternehmen beim Erwerb einer Beteiligung an einem Unternehmen mit Sitz in Spanien außer bei einer Unternehmensverschmelzung den aus diesem Erwerb stammenden Geschäfts- oder Firmenwert nicht separat verbuchen bzw. abschreiben.
Beide Regelungen gelten unterschiedslos für alle gebietsansässigen Unternehmen.
Der Beschluss der Kommission und der bisherige Verfahrensgang
Mit Entscheidung vom 28. Oktober 2009 und Beschluss vom 12. Januar 2011 stellte die Kommission fest, dass es sich bei der fraglichen steuerlichen Regelung um eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare Beihilferegelung handele. Sie verpflichtete Spanien zur Rückforderung der gewährten Beihilfen. Mehrere in Spanien ansässige Unternehmen reichten Nichtigkeitsklagen gegen die Beschlüsse ein.
Das EuG erklärte die angefochtenen Beschlüsse zunächst mit Urteilen vom 07. November 2014 (T-219/10 und T-399/11) für nichtig. Es war der Ansicht, die Kommission habe die Selektivität der steuerlichen Maßnahmen nicht nachgewiesen.
Auf Rechtsmittel der Kommission hob der EuGH die Urteile auf und verwies die Verfahren an das EuG zurück (C-20/15 P und C-21/15 P). Das EuG habe nämlich ein falsches Verständnis des Tatbestandsmerkmals der Selektivität eines Vorteils zugrunde gelegt. Das EuG bestätigte in der Folge die Selektivität der steuerlichen Maßnahme und wies die Nichtigkeitsklagen ab (T-227/10, T-239/11, T-405/11, T-406/11, T-219/10 und T-399/11).
Nachdem wiederum die klagenden Unternehmen und Spanien Rechtsmittel eingelegt hatten, war nun erneut der EuGH (große Kammer) an der Reihe. Diesmal bestätigte er die Entscheidungen des EuG und wies die Rechtsmittel zurück (C-50/19 P; verbundene Rechtssachen C-51/19 P und C-64/19; C-52/19 P; verbundene Rechtssachen C-53/19 P und C-65/19 P; C-54/19 P; C-55/19 P). Der Schwerpunkt der rechtlichen Würdigung liegt auch in diesen Urteilen auf der Frage der Selektivität der steuerlichen Maßnahme. In seiner Würdigung präzisiert der EuGH seine diesbezügliche Rechtsprechung.
Die Entscheidungen des EuGH: Anforderungen an die Selektivität steuerlicher Maßnahmen
Einleitend führt der EuGH aus, dass die gegenständliche Maßnahme nicht schon deshalb nicht selektiv sein kann, weil sie insofern einen allgemeinen Charakter hat, dass sie grundsätzlich allen Unternehmen zugutekommen kann, die eine von der Regelung umfasste Transaktion tätigen. Eine Maßnahme kann auch dann selektiv sein, wenn der Vorteil nicht von den Merkmalen eines Unternehmens abhängt, sondern davon, ob es eine Transaktion vornimmt oder nicht.
So ist es anerkannt, dass das Tatbestandsmerkmal der Selektivität erfüllt ist, wenn die Kommission darlegt, dass eine Maßnahme zum einen von der üblichen in einem Mitgliedsstaat geltenden Steuerregelung abweicht und zum anderen durch ihre Auswirkungen eine Ungleichbehandlung von solchen Wirtschaftsteilnehmern bewirkt, die sich hinsichtlich des Ziels der eigentlich geltenden Steuerregelung in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden.
Hierbei hat die Kommission in drei Schritten vorzugehen:
- Sie muss die im Mitgliedsstaat geltende allgemeine Steuerregelung ermitteln. Eine solche muss sich aus einer objektiven Prüfung des Inhalts, des Zusammenhangs und der konkreten Wirkungen der nach dem nationalen Recht anwendbaren Vorschriften ergeben. Ist die fragliche steuerliche Maßnahme untrennbar mit dem allgemeinen Steuersystem des Mitgliedsstaates verbunden, ist auf dieses Steuersystem Bezug zu nehmen.
- Sie muss sodann darlegen, dass die zu prüfende Maßnahme eine Abweichung von dem ermittelten Bezugssystem darstellt und hierdurch eine Unterscheidung zwischen Unternehmen eingeführt wird, die sich in Hinblick auf das mit dem Bezugssystem verfolgten Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden.
- Schließlich hat sie zu prüfen, ob die Unterscheidung aus sich aus der Natur oder dem Aufbau des Bezugssystems ergebenden Gründen gerechtfertigt ist.
Unter Anwendung dieser Maßstäbe kommt der EuGH in seinen Urteilen zu dem Ergebnis, dass die Kommission zurecht die Selektivität der gegenständlichen steuerlichen Maßnahme angenommen hat.
Zunächst hat die Kommission nach Ansicht des EuGH klar herausgearbeitet, dass das heranzuziehende Bezugssystem im allgemeinen, den Geschäfts- und Firmenwert regelnden, Körperschaftssteuersystems Spaniens besteht. Insbesondere stellt die streitgegenständliche Maßnahme keine eigene allgemeine Vorschrift über die Abschreibung des Geschäfts- oder Firmenwertes als eigenes Bezugssystem dar. Vielmehr handelt es sich um eine besondere Modalität der Anwendung der allgemeinen Körperschaftssteuer. So wird eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass nur Unternehmensverschmelzungen zur Abschreibung des Geschäfts- oder Firmenwertes führen können, geregelt.
In der Folge stützt der EuGH die Ausführungen des EuG dass für den im zweiten Schritt vorzunehmenden Vergleich der tatsächlichen und rechtlichen Situation der Unternehmen nicht etwa das Ziel der betreffenden Maßnahme, sondern das mit dem allgemeinen Steuersystem verfolgte Ziel maßgeblich ist.
Die Rechtsmittelführer hatten nämlich angeführt, dass sich Unternehmen, die Beteiligungen im Ausland erwerben wegen des Bestehens von Hindernissen für grenzüberschreitende Unternehmensverschmelzungen nicht in einer vergleichbaren rechtlichen und tatsächlichen Situation wie Unternehmen befänden, die Beteiligungen an gebietsansässigen Gesellschaften erwerben. Zurecht hat das EuG aber festgestellt, dass das Vorliegen etwaiger Hindernisse für grenzüberschreitende Unternehmensverschmelzungen nicht im Zusammenhang mit den Zielen des allgemeinen Steuersystems stehen. Hierbei handelt es sich wenn dann um ein Ziel der streitgegenständlichen steuerlichen Maßnahme, nicht aber des Bezugssystems.
Im Hinblick auf das mit der steuerlichen Behandlung des Geschäfts- und Firmenwertes verfolgten Ziels befinden sich demnach Unternehmen, die Beteiligungen an ausländischen Gesellschaften erwerben in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation wie Erwerber von Beteiligungen an gebietsansässigen Gesellschaften. Eine Abweichung vom ermittelten Bezugssystem ergibt sich dann aus der mit der streitgegenständlichen Maßnahme geregelten Ausnahme von den allgemeinen Körperschaftssteuervorschriften, nach denen beim Erwerb einer Beteiligung an einem Unternehmender aus diesem Erwerb stammenden Geschäfts- oder Firmenwert nicht abgeschrieben werden kann.
Auch im dritten Schritt der Selektivitätsprüfung folgt der EuGH der Beurteilung des EuG. So kann sich Spanien als Rechtfertigung der Unterscheidung zwar grundsätzlich auf den Grundsatz der steuerlichen Neutralität berufen. Die hier gegenständliche steuerliche Maßnahme war aber aus zwei Gründen auch im Hinblick auf den Grundsatz der steuerlichen Neutralität nicht gerechtfertigt:
Zum einen wird eine „neutralisierende Wirkung“ der streitigen Maßnahme von den Klägern nicht nachgewiesen. Spanien stützte die Maßnahme darauf, dass Unternehmen, denen eine grenzüberschreitende Verschmelzung aufgrund von hierbei bestehenden Hindernissen nicht möglich sei, regelmäßig zumindest Beteiligungen an ausländischen Gesellschaften erwerben würden. Nach Ansicht des EuG und des EuGH konnte Spanien aber nicht nachweisen, inwiefern diese Prämisse zutrifft oder zur Rechtfertigung der geregelten Ausnahme führen soll. In Wirklichkeit führt die Maßnahme vielmehr dazu, dass solchen Unternehmen ein Vorteil verschafft wird, die in ausländische Gesellschaften investieren wollen, ohne eine Verschmelzung anzustreben. Sie bevorzugt also andere Unternehmen, als diejenigen, gegenüber denen Spanien eine nachteilige Auswirkung der allgemeinen Vorschriften über die Abschreibung des Geschäfts- oder Firmenwertes ausgleichen möchte.
*Diesen Beitrag schrieb Christopher Hanke während seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt bei MWP.